Süddeutsche Zeitung

Videos von tödlichen Schüssen:Tod in Echtzeit

Ein Polizist erschießt einen Schwarzen, Heckenschützen feuern auf Polizisten - millionenfach auf Facebook übertragen. Was macht es mit Menschen, wenn sie in ihrer Timeline Sterbende sehen?

Von Simon Hurtz

Diamond Reynold sitzt mit ihrem Freund Philando Castile im Auto, die Polizei hält den Wagen an. Bei der Kontrolle fallen Schüsse, Castile hängt blutüberströmt und stöhnend im Gurt des Fahrersitzes. In diesem Moment beginnt Reynold, die Szene mit ihrem Smartphone zu filmen. Das Video streamt sie live bei Facebook.

Exakt 24 Stunden später, knapp 1500 Kilometer südlich, Texas statt Minnesota. In Dallas protestieren Menschen friedlich gegen Polizeigewalt und Rassismus, plötzlich eröffnen Heckenschützen das Feuer auf Polizisten, die den Marsch begleiten. Nur wenige Meter entfernt steht Michael Kevin Bautista. Auch er filmt mit seinem Smartphone, auch er lädt das Video bei Facebook hoch.

Nicht der erste Fall von brutaler Gewalt in sozialen Medien

Mittlerweile wurden beide Clips zusammen mehr als acht Millionen Mal angeschaut und hunderttausendfach geteilt. Millionen Facebook-Nutzer haben gesehen, wie Diamond Reynold, unter Schock stehend, immer wieder wiederholt: "Please don't tell me he's dead. Please don't tell me this, Lord. Please Jesus, don't tell me that he's gone." Millionen Facebook-Nutzer haben gesehen, wie Polizisten in Dallas auf dem Boden liegen, verwundet oder tot, während Michael Bautista immer wieder wiederholt: "Holy shit!"

Die Videos verstören und schockieren. Wer durch seinen Newsfeed bei Facebook scrollt, muss befürchten, plötzlich Menschen beim Verbluten zuzuschauen. Anfangs lief das Video der Polizeikontrolle automatisch an, mittlerweile hat Facebook ein Warnschild vorgeschaltet. Die Aufnahmen aus Dallas starten immer noch von selbst. Wer das nicht sehen will, muss selbst aktiv werden und das automatische Abspielen von Videos deaktivieren. Die Standardeinstellung lautet: Autoplay on.

Es passiert nicht zum ersten Mal, dass brutale Gewalt live in sozialen Medien zu sehen ist. Ende Februar filmte eine 18-Jährige, wie ihre 17-jährige Freundin vergewaltigt wurde; die Aufnahme landete im gleichen Moment bei Periscope, dem Livestreaming-Dienst von Twitter. Im Mai streamte eine junge Französin, wie sie sich vor einen Zug warf. Periscope hat das Video gelöscht, Teile davon finden sich noch bei Youtube. Auch Terroristen nutzen die neuen technischen Möglichkeiten: Larossi Abballa, der vor der Fußball-EM in Frankreich einen Polizisten und dessen Ehefrau ermordete, filmte sich selbst in der Wohnung seiner Opfer. Die Aufnahme war live bei Facebook zu sehen.

Früher hatten Medien eine Gatekeeper-Funktion inne. Sie entschieden, was wichtig war, sie setzten die Themen, über die am nächsten Tag gesprochen wurde. Heute sind mehr als anderthalb Milliarden Facebook-Nutzer potenzielle Sender. Seit Jahren kann jeder Mensch mit einem Smartphone Bilder und Videos machen, mittlerweile sogar live streamen, was er gerade sieht.

Das ändert das Verhältnis von klassischen und sozialen Medien fundamental. Zwei Drittel der US-Amerikaner nutzen Facebook als Nachrichtenquelle, weltweit sind es mehr als 50 Prozent. Immer seltener sind Medien selbst die ersten vor Ort, immer öfter verbreiten sie bloß die Augenzeugenvideos von Tatorten und tragen so dazu bei, dass Menschen wie Diamond Reynold und Michael Bautista ein Millionenpublikum erreichen.

Für viele Afroamerikaner in den USA ist das ein Geschenk. Erstmals haben sie die Möglichkeit, sich gegen Polizeigewalt zu wehren - nicht mit der Waffe, aber mit dem Smartphone in der Hand. "Gott sei Dank gibt es Apple, Google und Microsoft", sagte der Anwalt eines Schwarzen, der am Mittwoch erschossen wurde. Auch in anderen Staaten, wo Menschen unter staatlicher Willkür leiden, Demonstrationen blockiert und Protestierende eingeschüchtert werden, schreckt das gezückte Smartphone knüppelnde Beamte womöglich eher ab als eine geballte Faust. Sie wissen, dass sie sich später für ihre Gewalt werden verantworten müssen.

Doch die Risiken sind genauso offensichtlich: Was macht es mit Jugendlichen, wenn sie plötzlich das Video des sterbenden Philando Castile in ihrer Timeline sehen? Hier fließt kein Kunstblut, hier stöhnen keine Schauspieler, der Schmerz, die Trauer, die Wut und der Tod sind echt. Wie verhindern wir, dass Terroristen Livestreaming als besonders grauenhafte Art missbrauchen, um Angst und Schrecken zu verbreiten? Erst Fotos von Geiseln und Opfern, dann Videos von Hinrichtungen, bald alle Terroranschläge in Echtzeit?

Natürlich löschen Facebook und Twitter diese Propaganda der Terroristen, sobald sie darauf aufmerksam werden. Doch was einmal im Netz ist, verbreitet sich im Schneeballsystem. Wer danach sucht, wird es finden - und wer das Pech hat, den Livestream in die Timeline gespült zu bekommen, bevor die sozialen Netzwerke reagieren können, wird mit Dingen konfrontiert, die er niemals sehen wollte. Die grauenvollen Bilder und Videos bleiben jahrelang im Gedächtnis.

Auch die Rolle der Augenzeugen wirft Fragen auf. Niemand kann Diamond Reynold vorwerfen, dass sie filmte, statt ihrem Freund zu helfen. Vermutlich hätte sie sogar riskiert, selbst erschossen zu werden, wenn sie eingegriffen hätte: Neben dem Auto stand ein Polizist mit gezückter Waffe, er schnauft hörbar, schreit immer wieder und ist offensichtlich genauso geschockt wie Diamond Reynold. Doch womöglich gibt es Fälle, wo es besser wäre, aktiv zu handeln statt passiv zu filmen. Kann es passieren, dass zwei Rechtsradikale einen Ausländer verprügeln, während drei Passanten filmen, weil sie glauben, die Szene dokumentieren zu müssen?

Facebook hat keine Richtlinie für grenzwertige Livestreams

Nicht zuletzt müssen Medien überlegen, wie sie mit den Videos vom Tatort umgehen. Sollte eine Seite wie SZ.de, die Millionen Leser erreicht, die Aufnahmen verbreiten? In diesem Fall haben wir uns dafür entschieden, die Links zu den Videos zu setzen. Sie sind schwer zu verdauen, zeigen aber keine direkte, physische Gewalt. Letztendlich wird man diese Entscheidung in jedem Einzelfall neu treffen müssen. Eine goldene Regel gibt es nicht.

Während klassische Medien lediglich die Wahl zwischen "Link" oder "kein Link" haben, müssen soziale Medien wie Facebook entscheiden, ob sie das Video löschen oder nicht. "Wir haben diese Technologie entwickelt, um den Menschen zu ermöglichen, so persönlich, emotional und ungefiltert zu kommunizieren, wie sie es möchten", sagte Mark Zuckerberg beim Start von Facebook Live.

Noch hat das Unternehmen keine Richtlinien für den Umgang mit brutalen, grenzwertigen Livestreams entwickelt. Auf einen entsprechenden Fragenkatalog von Buzzfeed hat Facebook bislang nicht reagiert. Zwischenzeitlich war das Video nicht abrufbar; wenig später entschuldigte sich Facebook mit einem "technischen Fehler", nachdem Zensurvorwürfe aufgekommen waren.

Die einzige Stellungnahme kommt von Zuckerberg selbst. Bei Facebook schreibt er: "Die Bilder, die wir diese Woche gesehen haben, sind drastisch und herzzerreißend, und sie beleuchten die Angst, mit der Millionen Mitglieder unserer Gemeinschaft jeden Tag leben müssen. Während ich hoffe, dass wir kein weiteres Video wie das von Diamond sehen müssen, so erinnert es uns doch daran, warum es so wichtig ist, dass wir zusammen eine offene und vernetzte Welt schaffen - und wie weit wir noch davon entfernt sind."

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