Video-Plattform:Youtubes Lügenalgorithmus

Youtube

Youtube, die weltgrößte Online-Unterhaltungsplattform

(Foto: Britta Pedersen/dpa)

Ein Programmierer hat den Algorithmus von Youtube analysiert. Zeigt die Videoplattform sensationslüsterne Inhalte lieber als nüchterne Analysen?

Von Michael Moorstedt

Die Videos, mit denen die weltgrößte Online-Unterhaltungsplattform zuletzt in die Schlagzeilen kam, wirken wie die Inhaltsangabe eines Horrorfilms. Da gab es Rowdys zu sehen, die sich über die Leiche eines Selbstmörders lustig machen, Comicfiguren, die Bleichmittel trinken oder blutige Schlägereien unter Schulkindern.

Zu sagen, Youtube habe momentan ein PR-Problem, ist eine fahrlässige Untertreibung. Das Unternehmen behilft sich mit den bekannten und vermeintlich bewährten Mitteln: mehr schlecht bezahlte Moderatoren und automatisierte Programme. Seit letzter Woche kennzeichnet man auch Videos staatlicher Nachrichtenorganisationen, um für mehr Transparenz zu sorgen. Man habe verstanden, so schrieb Youtube-Chefin Susan Wojcicki, dass man eine "gesellschaftliche Verantwortung" habe und lasse sich deshalb von vielen Stellen beraten, wie man dieser gerecht werden könne.

Vielleicht aber bekämpfen all diese Maßnahmen nur die Symptome, nicht die Ursachen. Zu denen gehört unbedingt der Algorithmus, der festlegt, welche Videos den Nutzern vorgeschlagen werden. In der automatisierten Aufmerksamkeitsökonomie, die die Regeln auf Youtube - und allen anderen sozialen Netzwerken - bestimmt, wird das belohnt und gefördert, was den Nutzer vor dem Bildschirm bindet. Das sogenannte User Engagement ist die alles bestimmende Messzahl. Nur durch sie kann man mehr Werbung verkaufen.

Anscheinend werden spaltende Inhalte nach oben geschwemmt

Der französische Programmierer Guillaume Chaslot hat an diesem Algorithmus mitgearbeitet. Drei Jahre war er bei Youtube beschäftigt, 2013 wurde er entlassen. Nachdem es Außenstehenden so gut wie unmöglich ist, einen Einblick in die Wirkmechanismen des Algorithmus zu bekommen, muss man sich relativ rabiater Methoden bedienen, um ihn nachzuvollziehen: Klicken und sehen, was passiert. Also schrieb Chaslot eine Software, die das Verhalten eines prototypischen Youtube-Nutzers simulieren sollte. Es startet mit einer Textsuche und arbeitet sich dann durch den Video-Strang, die der Empfehlungsalgorithmus an erster Stelle präsentiert.

18 Monate lang ließ Chaslot sein Programm sich durch Tausende von Videos klicken. Und er behauptet, ein Muster erkennen zu können. Es scheine so, als würden die im Youtube-Maschinenraum werkelnden Mechanismen systematisch spaltende, sensationslüsterne und verschwörerische Inhalte nach oben schwemmen. "Fiktion übertrifft Wirklichkeit", sagt Chaslot. Auf der Website Algotransparency.org listet er die Ergebnisse seines Programms auf. Zu so gut wie jeder beliebten Verschwörungstheorie gibt es dort eine eigene Kategorie: Ist die Erde flach? Gab es die Dinosaurier wirklich? Lösen Impfungen Autismus aus? Und wie ist das eigentlich mit der globalen Erwärmung? Die Ergebnisse tendieren sehr stark in Richtung des Fantastischen. Wahrheit klickt sich nicht gut.

Das gilt nicht nur für wissenschaftliche Fragen, sondern auch für die politische Sphäre. So etwa vor der US-Präsidentschaftswahl 2016. Von den 600 am häufigsten empfohlenen Videos, die sich mit den beiden Kandidaten beschäftigen, hätten mehr als 80 Prozent eine starke Pro-Trump-Gewichtung. Auch zur Bundestagswahl 2017 listet die Website die beliebtesten Videos auf. Die Titel der Top 20 lesen sich erstaunlich kohärent: Da wird Merkel "zerlegt", während der AfD-Mann Meuthen "begeistert", von "linksgrüner Ideologie" ist die Rede und vom "eigenen Grab", das sich sämtliche Unions- und SPD-Wähler selbst schaufeln.

Mit den Ergebnissen konfrontiert, zeigt man sich bei Youtube uneinsichtig. Die Empfehlungen seien Reflexion dessen, wonach die Menschen eben suchen. Dass man selbst Teil eines sich selbst verstärkenden Kreislaufs ist, will man anscheinend nicht einsehen. Die Youtube-Replik sei das Gleiche, schrieb die Soziologin Zeynep Tufekci auf Twitter, als würde eine Schulkantine nur noch Süßigkeiten anbieten und sich darauf berufen, dass die Kinder das doch mögen.

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