Verfallsdatum für Daten:Glücklich ist, wer vergisst?

Im digitalen Gedächtnis geht nichts verloren. Das bringt Probleme - aber eine generelle Amnesie ist keine Lösung für eine aufgeklärte Gesellschaft.

Niklas Hofmann

Wir mögen mit der Vergangenheit fertig sein, aber die Vergangenheit ist noch nicht fertig mit uns. So heißt es in Paul Thomas Andersons Film "Magnolia" aus dem Jahr 1999. Diese Erkenntnis gilt heute mehr denn je. Wo gerade allerorten wieder die Sätze aus Johann Strauß' "Fledermaus"erklangen: "Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist", da gilt eigentlich: Was nicht mehr zu ändern ist, wird mit Sicherheit irgendwann durch eine simple Google-Suche wieder zutage gefördert.

Gedächtnis Daten Datenstrom

Der Mensch vergisst - doch Daten sind theoretisch unzerstörbar. Viktor Mayer-Schönberger, Direktor des Oxford Internet Institute, plädiert für deshalb für ein digitales Verfallsdatum.

(Foto: iStock)

Viktor Mayer-Schönberger erzählt gerne die Geschichte von Andrew Feldmar. Feldmar, ein kanadischer Psychotherapeut um die 70, wurde 2006 auf Lebenszeit die Einreise in die USA verwehrt, nachdem ein Grenzbeamter bei einer flinken Internet-Recherche auf einen bereits Jahre alten Artikel des Akademikers in einer obskuren Fachzeitschrift gestoßen war, in dem er über seine LSD-Experimente in den sechziger Jahren berichtet hatte.

Der Therapeut, dessen Jugendsünde ihm so unverhofft wie spät zum Verhängnis wurde, ist eines der Lieblingsbeispiele des seit neuestem in Oxford und zuvor in Harvard lehrenden österreichischen Internet-Forschers und Juristen Mayer-Schönberger, wenn er darlegt, warum das Netz so dringend das Vergessen lernen müsse.

Dafür plädiert der frischgebackene Direktor des Oxford Internet Institute bereits seit Jahren. Und seine Kernidee einer Ablauffrist für elektronische Daten erfreut sich inzwischen einiger Resonanz, vor allem seit Bundesinnenminister Thomas de Maizière in seiner netzpolitischen Grundsatzrede die Forderung nach einem "digitalen Radiergummi" aufstellte und mit dem Verfallsdatum auch Mayer-Schönbergers zentrale These aufgriff. Auch im französischen Senat und bei der EU-Kommission fiel diese bereits auf fruchtbaren Boden.

Das Konzept, wie Mayer-Schönberger es in seinem kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenen Buch "Delete - Die Tugend des digitalen Vergessens" entwirft, besteht darin, dass alle Informationen, die wir im Netz hinterlassen, in ihren Metadaten mit einem Verfallsdatum versehen würden.

Skurille Vorschläge

Das ließe sich über eine einfache Nutzeroberfläche festlegen und flexibel einstellen, von wenigen Tagen bis zu hundert Jahren. Nach Ablauf würden sie gelöscht, oder, um die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses authentischer abzubilden, sie würden "rosten", also Schritt für Schritt schwieriger auffindbar werden und sich immer langsamer abrufen lassen.

In der Praxis führt dies Mayer-Schönberger zu leicht skurrilen Vorschlägen. So regt er allen Ernstes an, die Probleme, die sich durch die digitale Fotografie stellten, zu lösen, indem jedem Menschen ein schlüsselanhängergroßes Instrument mitgegeben würde, das einer Digitalkamera die gewünschten Voreinstellungen des Abgelichteten übermitteln könnte: Dauerhaft speichern, befristet speichern oder sofort löschen.

Wie man sich das konkret etwa bei Gruppenaufnahmen vorzustellen hat, würde man gerne genauer erfahren. Würden einzelne der abgebildeten Personen im Nachhinein mit einem Pixelschleier überzogen, während andere gestochen scharf blieben? Käme die Street-View-Verblurrung für alle?

Der ausgelagerte Datenspeicher

Dabei beschreibt Mayer-Schönberger zunächst etwas sehr Richtiges. Tatsächlich ist das Erinnern, über Jahrtausende der Menschheitsgeschichte stets ein höchst mühsames Unterfangen, durch die technische Entwicklung weniger Jahrhunderte unendlich leichter und billiger geworden.

Aber erst durch das Internet ist es zu der zuvor nie dagewesenen Umkehrung gekommen, dass es uns tatsächlich leichter fällt, Dinge in Erinnerung zu behalten, als sie zu vergessen - nicht in unseren Köpfen, aber im ausgelagerten Gedächtnis der Datenspeicher.

Dass Informationen auf Knopfdruck abrufbar sind, ist die Normalität. Dass sie nicht mehr auffindbar sind, die erklärungsbedürftige Ausnahme. E-Mail-Provider werben längst damit, dass man nie wieder eine E-Mail löschen müsse.

Mayer-Schönberger beschreibt durchaus treffend die kognitive Überforderung, die dieser informationelle Overkill für die Menschen darstellen kann, und die uns ähnlich in unseren Datenfluten ertrinken lässt, wie es in ihrer Sammel- und Speicherwut den Geheimdiensten geschieht.

Mayer-Schönberger schildert die Fälle, in denen das Netz (wie bei Andrew Feldmar) Splitter aus unserer Vergangenheit hervorkatapultiert, die dann, aus jedem ursprünglichen Kontext gelöst, zu gefährlichen Geschossen werden können. Und er will sich zurecht nicht mit dem milden Tugendterror derjenigen im Netz abfinden, die argumentieren, dass man eben nichts tun solle, von dem man nicht wolle, dass andere es hinterher erfahren könnten.

Konkreten Ideen fehlt die Logik

Man kann dem Autor zugutehalten, dass er, wie er im Schlusswort selbst erklärt, seine Lösungen nicht vorgeben, sondern vor allem eine "offene und intensive Diskussion" anstoßen will. Wo er in seinen Vorschlägen konkret wird, neigt er aber leider stets dazu, zwei getrennte Probleme auf einmal lösen zu wollen.

Für das eine Problem steht bei ihm das von Jeremy Bentham ersonnene Ideal-Gefängnis "Panopticon". Gemeint ist eine Macht, die in jedem Moment so viel über mich weiß, dass ich mein Verhalten vorsorglich anpasse, um ihr nicht unangenehm aufzufallen.

Hier gibt es eine erhebliche Schnittmenge mit den Kernanliegen des Datenschutzes. Nutzerdaten etwa bei Online-Händlern, Suchmaschinen und Sozialen Netzwerken durch Verfallsdaten nur so lange gespeichert zu halten, wie das zu ihrer Verarbeitung unbedingt nötig ist und dem Willen des Einzelnen entspricht, das erscheint durchaus praktikabel und sinnvoll.

Das zweite Problem ist damit aber nur viel loser verknüpft, als Mayer-Schönberger glauben machen will. Es geht um die Frage, wie gut jeder Einzelne (und die Gesellschaft insgesamt) das Paket seiner beziehungsweise ihrer Erinnerung tragen kann.

Antiaufklärerische Schlagseite

Durch Mayer-Schönbergers Buch zieht sich die Prämisse, Erinnerung und Gedächtnis seien ganz überwiegend Hemmschuhe, die uns daran hinderten, angemessen auf Gegenwart und Zukunft zu reagieren, ja vor allem in ihnen produktiv zu agieren. Was so aber nicht unwidersprochen bleiben muss.

Ein weiteres Lieblingsbeispiel Mayer-Schönbergers sind zwei alte Freunde, ein Mann und eine Frau, die sich nach langer Zeit, in der sie keinen Kontakt hatten, miteinander verabreden. Eben noch voll Vorfreude, findet die Frau bei der Suche im E-Mail-Speicher eine alte Nachricht, die einen längst vergessenen Streit mit dem Freund dokumentiert.

Die einst nur kurz empfundene Antipathie wird wieder aufgewühlt, und weil die seinerzeitige Versöhnung nicht ebenfalls schriftlich dokumentiert war, dominiert die negative Erinnerung. Die Begegnung der beiden, die gerade noch unter so guten Vorzeichen stand, ist nun belastet.

Mayer-Schönberger findet das offenbar verkehrt. Mal abgesehen von der Frage, ob wir tatsächlich solche emotionalen Sklaven unserer kleinen Erinnerungsstützen sind: Wer will eigentlich beurteilen, ob besagter Freund seine zweite Chance verdient hatte? Warum soll die frischere Erfahrung die gültigere sein?

Will man zum Beispiel einer misshandelten Ehefrau in dem Moment recht geben, in dem sie ihren Mann anzeigt, oder eher später, wenn ihr sein Hundeblick klargemacht hat, dass er doch "auch seine guten Seiten" hat? Handelt jenes Volk weise, dass seinem Premier am Wahltag alle Affären verzeiht, weil er nun aber wirklich Reformen versprochen hat?

Rückkehr zum Glauben und Ahnen

Zudem soll und wird es ja nicht gelingen, die Menschen regelmäßig so zu "blitzdingsen", wie es in der Komödie "Men in Black" geschieht, ihnen also die Erinnerung buchstäblich zu löschen. Wovon Mayer-Schönberger sie mit seinen Verfallsdaten nur befreien kann und will, ist die Flut an Gedächtnisstützen, an manchmal unangenehmen Beweisen für das, was gewesen ist.

Das Ergebnis wäre aber eben nicht segensreiches Vergessen, nicht befreiende Erinnerungslosigkeit, sondern es wäre Verschwommenheit, Ungewissheit, wäre eine partielle Rückkehr zum Glauben und Ahnen - alles, um das Leben besser verkraften zu können. Und an dieser Stelle bekommt Mayer-Schönbergers so menschenfreundlich gemeinter Ansatz eine schwer antiaufklärerische Schlagseite.

Ihm geht es um die falsche Suggestion von Objektivität und Vollständigkeit, mit der das digitale Gedächtnis das menschliche übertrumpfe. Der Hinweis ist höchst berechtigt.

Das Internet einer vorprogrammierten Amnesie zu unterwerfen, wird uns vor dieser Falle aber nicht bewahren.

Lesen Sie hierzu Berichte in der Süddeutschen Zeitung.

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