US-Wahlkampf im Netz:Es lebe die Videokratie

Die Stimmen der Wähler werden immer lauter: "Voter-Generated-Content" dominiert den Kampf um die Bilder. Findet bei der US-Wahl eine Machtverschiebung in Richtung Konsumenten statt?

Tobias Moorstedt

Vor einigen Wochen präsentierte Hillary Clinton einen Fernsehspot mit dem Titel "3 a.m." (Drei Uhr morgens). Man sah ein schlafendes Mädchen, hörte Geigenklänge und eine Märchenerzählerstimme: "Es ist drei Uhr morgens, im Weißen Haus klingelt ein Telefon. Wer soll dieses Telefon abheben?" Der "3 a.m."-Spot sollte Zweifel wecken, dass der unerfahrene Barrack Obama auf eine plötzliche Krise richtig reagiert.

Kurz darauf tauchte im Internet ein weiterer Filmclip mit dem Titel "3 a.m." auf - wieder ein schlafendes Mädchen, Geigenklänge, eine Märchenerzählerstimme. Und Schnitt: Der Vater des Kindes betritt das Zimmer, wirft den Erzähler, der neben dem Bett des Kindes kauert, aus dem Haus, wendet sich zur Kamera und sagt: "Werde endlich erwachsen, Amerika. Fürchte dich nicht vor Märchenerzählern."

Der Cutter Andy Cobb hatte die Antwort auf Hillary Clinton produziert. Nicht als Gegenangriff, sondern als Appell an die politische Vernunft der Bevölkerung. Bis Mitte April sammelten sich auf YouTube mehr als 100.000 Videobotschaften, Kommentare und Remixes zu dem Clinton-Clip -"3 a.m." wurde zur medial-temporalen Ikone einer neuen Form des Wahlkampfs, in der Menschen nicht mehr von der Elite mit Bildern beschossen werden (Top Down), sondern selbst welche produzieren (Bottom Up).

Handeln statt nur zu schauen

"Voter-Generated-Content" ist das aktuelle Topthema in der "Spin Alley", der Heimat des politischen-medialen Komplexes. "Wie erleben einen besonderen Moment in der Geschichte", heißt es auf dem Blog Techpresident.org, "in dem sich die Menschen mit Videokamera und MacBook plötzlich wieder für Parteien und Themen engagieren." Schon spricht man in Washington von der Videokratie, von der Herrschaft der Bilder. Und diese Videokratie könnte den Wahlkampf ähnlich revolutionieren, wie damals im Wahljahr 1960 das Fernsehen.

Die Stimmen der Wähler werden immer lauter. Der Rapper will.I.am unterlegte den Obama-Slogan "Yes we Can" mit Hip-Hop und Bildern von jungen Bürgern und Hollywood-Stars für ein Video, das bislang mehr als zehn Millionen Mal angeschaut wurde. In einem anderen Video mit dem Titel "Obama Girl" tanzte ein New Yorker Model durch die Straßen und trällerte: "I got a crush on Obama." (Ich bin in Obama verliebt). Mehr als acht Millionen Zuschauer machten das Obama Girl zu einer Pop-Politik-Phänomen, das zwei Sachen beweist: Politik ist wieder sexy, das heißt, interessant; und die wirkungsvollsten Spots werden nicht mehr unbedingt von Werbern mit Millionenbudgets entworfen.

Es lebe die Videokratie

Nachdem die digitale Revolution die milliardenschwere Musik- und Filmindustrie umgekrempelt hat, sollte es niemanden überraschen, dass im verwandten Showbiz-Genre des Wahlkampfs ebenfalls eine Machtverschiebung in Richtung Konsumenten stattfindet. Jeder kann mit Digitalkameras und Schnittprogrammen hochwertige Kurzfilme zusammenstellen, und sie über Webseiten und Videoportale an ein globales Publikum senden.

Die Generation von Andy Cobb und anderen Amateur-Wahlkämpfern ist mit den interaktiven Medien und einem Gefühl der eigenen Wirksamkeit aufgewachsen. Sie besitzt ein tiefes Verständnis von medialen Genres, Erzählformen und den Produktions- und Vertriebstechnologien. Im Jahr 2008 gewinnen Brechts Radiotheorie (Jeder ein Sender, jeder ein Empfänger) und McLuhans schöner Begriff vom "Prosumenten" endlich an Substanz. Es entsteht ein neuer Künstlertypus, kollektive Kreativität, TAFKATA: "The artist formerly known as the audience".

Aufklärung mit tumben Clips

Die Diskursoberfäche ändert sich in Echtzeit und gibt Rätsel auf. Was bedeutet es, wenn sich 500 000 Menschen ein Video ansehen, in dem drei Hausfrauen auf die Melodie der Weather Girls "It's raining Mc Cain" singen? Ist das hip? Macht es McCain hip? Steigert es seine Wahlchancen? Oder sucht sich hier nur die hysterisch mäandernde Netzaufmerksamkeit einen neuen Fokus und Fixpunkt?

Idealisten zitieren hier gerne Kant, der schrieb, dass sich ein Publikum schon selbst aufklären werde, wenn man ihm nur die Freiheit ließe, von seiner Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen. Kulturpessimisten verweisen auf tumbe Clips wie "Barack'n'Roll" (400.000 Zuschauer), in dem ein Student auf einem Hausdach herumhüpft und singt "Oh Bama! Go Bama!" Pragmatiker sagen zu Recht, dass diese gelebte und getanzte Demokratie, die Energie und das Engagement, unserer Spätdemokratie, die zwischen Politikverdrossenheit und Partikularinteressen wie gelähmt erscheint, doch nur gut tun könnten.

Genau wie die meisten Garagenbands auf MySpace im 21. Jahrhundert so unbekannt bleiben, wie es in der prädigitalen Ära ihr Schicksal gewesen wäre, so versenden sich auch die meisten Amateur-Politik-Videos im weißen Rauschen des Internets. Die Preisfrage im US-Wahlkampf lautet deshalb: What makes a video go viral? Unter welchen Umständen und mit welcher Botschaftsstruktur kommt es zu diesem sich selbst verstärkenden Prozess, der einen billigen YouTube-Clip zur globalen Ikone macht?

Es lebe die Videokratie

Die Antwort ist banal: "Die Clips müssen kurz, kontrovers oder komisch sein", sagt Jim Giliam, Creative Director bei Brave New Films, "weiter sind wir auch noch nicht." Brave New Films ist eine Schöpfung des ehemaligen New-Economy-Unternehmers Giliam und der linken Dokumentarfilm-Legende Robert Greenwald ("Outfoxed", "Wal-Mart", "Iraq for Sale"). 90-minütige Filme sind eine gute Sache, meint Giliam, "aber Vierminüter können wir schnell produzieren und so die aktuelle Debatte beeinflussen. Sie müssen so konstruiert sein, dass sie den Betrachter zum Handeln bringen" Die Videos sollen nicht nur angeschaut, sondern kommentiert, verlinkt und weiterverschickt werden. Giliam sagt: "Da hat man keine Zeit für Feinheiten. Es gilt das Gut-Böse-Schema."

Unkontrollierbarer Untergrund

Die Wahlkampfspots aus dem Untergrund werden nun einerseits als authentische Repräsentation des politischen Bewusstseins gefeiert, andererseits mit Skepsis betrachtet. "Das ist nicht echt", steht zum Beispiel als Kommentar unter einem YouTube-Video mit dem Titel "Hillary Speaks for Me", das Jugendliche zeigt, die die Senatorin mit glatten Bildern und Worten als ideale Kandidatin preisen. Wer steckt denn hinter der Botschaft?

Das wird auch zu einer Herausforderung für Kandidaten und Parteien, da sie keine Kontrolle über die Amateurwahlkämpfer haben. Barack Obama beispielsweise wurde angegriffen, weil das "Obama Girl" einen knappen Bikini trägt und im Hintergrund eines anderen Videos eine Flagge mit Che Guevara zu sehen war. "Das Internet hat eine Kehrseite", sagte sein Chefstratege David Axelrod dem Musikmagazin Rolling Stone, "Hässliche, ungefilterte Dinge zirkulieren da in unserem Namen im Netz. Und wir müssen mit den Folgen leben."

Eine neue Bildsprache aber haben die Amateur-Wahlkämpfer noch nicht gefunden. Die linke Netzorganisation Moveon.org veranstaltet in diesen Tagen den Wettbewerb "Obama in 30 seconds". Viele Tausend Teilnehmer haben bereits Videos eingesandt. In der Jury sitzen Hollywood-Stars wie Oliver Stone und Matt Damon. Die meisten Teilnehmer bastelten recht gewöhnliche visuelle Hymnen auf Barack Obama, die Slogans wie "For our Future" und Bilder von Martin Luther King zeigen. Doch damit beweisen sie, dass der Wahlkampfspot letztlich zum medialen Text geworden ist, der Vergangenheit und Zukunft instrumentalisiert, um die Gegenwart auf seine Seite zu ziehen.

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