Der israelische Universalhistoriker Yuval Harari scheut keine großen Themen: In seinem Buch "Eine kurze Geschichte der Menschheit" schrieb er über den Werdegang des Homo Sapiens von der Frühzeit bis in die Gegenwart. Es hielt sich drei Jahre lang in der israelischen Sachbuch-Bestsellerliste und wurde in 38 Sprachen übersetzt. In wenigen Monaten erscheint sein neues Werk, zunächst auf Hebräisch. Darin wirft er einen Blick in die Zukunft, in der Menschen mit Technologie verschmelzen, um sich unsterblich zu machen. Ein Gespräch über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer Spezies.
Süddeutsche.de: Sie haben in ihrem Buch "Sapiens" die Geschichte der Menschheit von den Anfängen bis heute nachgezeichnet. Wo stehen wir heute, im Jahr 2015?
Yuval Harari: Es ist zum ersten Mal fast unmöglich zu sagen, wie die Welt in 30 Jahren aussehen wird. Wenn im Laufe der Geschichte ein Zehnjähriger gefragt hat, in welcher Welt er mit 40 leben wird, konnten ihm seine Eltern eine ziemlich gute Prognose geben. Natürlich könnte immer ein neuer König kommen, ein Krieg ausbrechen - aber die sozialen Umstände, die Familienstruktur, die Wirtschaft, war über solche Zeiträume immer recht stabil. Jetzt blicken wir 30 Jahre nach vorne und niemand weiß irgendwas. Das Einzige, was wir dem Zehnjährigen sagen können, ist: Die Welt wird komplett anders sein.
Lässt sich zumindest sagen, was sich am stärksten verändern wird?
Was für mich feststeht: Die größte Revolution der nächsten 100 Jahre wird das Menschsein selbst betreffen. Bei all den historischen Veränderungen der Menschheit war bislang eine Sache statisch: Wir. Wir hatten die gleichen Körper, mehr oder weniger die gleichen Gehirne, die gleichen physischen und kognitiven Fähigkeiten. Das wird sich verändern. Wie? Es gibt so viele unterschiedliche Möglichkeiten: Biotechnik, direkte Mensch-Computer-Schnittstellen, die Erschaffung künstlichen Lebens, künstliche Intelligenz oder eine Kombination aus allem.
Was sollte uns dazu bewegen, uns so zu erweitern?
Der Mensch wollte schon immer schöner, klüger und älter werden. Der Tod war allerdings bis vor kurzem größer als das Leben, ein religiöses oder metaphysisches Problem. Man musste ihm einen Sinn geben, sich vorbereiten - aber es gab keine Möglichkeit, ihn zu verhindern. Doch die Wissenschaft sagt inzwischen: Menschen sterben nicht, weil Gott es möchte oder ihre Zeit gekommen ist, sondern weil es ein technisches Problem gibt. Und in der Theorie gibt es dafür eine technische Lösung. Die kennen wir natürlich nicht immer, aber in der Theorie ist es lösbar.
Das klingt wie der Triumph der Wissenschaft über die Religion.
Auch die Wissenschaft kann neue Religionen hervorbringen, dazu braucht es keinen Gott. Der interessanteste Ort dafür ist derzeit das Silicon Valley. Es ist wie das alte Rom zur Zeit der Frühchristen, neue Religionen werden geboren im Kopf von Menschen wie Ray Kurzweil (prägender Theoretiker zur Verschmelzung von Mensch und Maschine zu höheren Wesen, Anm d. Red.). Solche Menschen sind religiöse Propheten mit erstaunlichen Visionen. Diese sind sogar ambitionierter als die der klassischen Propheten. Das, was gerade entsteht, könnte man Techno-Religion nennen.
Eine neue Form von Religion also, ohne metaphysischen Bezug?
So neu ist das nicht - die erste technologische Religion war der Kommunismus. Er markiert eine Wende, weil davor die meisten Fragen metaphysische waren: Glauben wir an Gott und an welchen? Gibt es ein Jenseits? Die Menschen haben Kriege geführt, weil die Religionen unterschiedliche Antworten hatten. Die industrielle Revolution machte diese Konzepte theoretisch überflüssig, weil es völlig neue Probleme gab, die nicht in Büchern wie dem Koran oder der Bibel verhandelt wurden. So entstand eine neue Ideologie, die das Paradies auf Erden mit Hilfe der Technik und passenden ökonomischen Maßnahmen versprach. Und ihre Propheten studierten nicht die alten Texte, sondern die Funktion der neuen Techniken und die industrielle Ökonomie.
Aber der Kommunismus gilt als gescheitert.
Nun, selbst wenn man damals die kommunistische Vision nicht akzeptierte, hat die Menschheit sich doch seine Prämisse zu eigen gemacht, dass die wichtigsten Fragen der Gegenwart die nach der Technologie, Produktionsstruktur und Ökonomie sind - und nicht die nach irgendwelchen metaphysischen Konzepten im Jenseits. Vor ein paar Jahrzehnten wurde die Menschheit fast durch einen Nuklearkrieg zweier Blöcke zerstört, die genau über diese ökonomische Produktionsstruktur stritten.
Kann Technologie den Menschen nicht nur klüger und stärker, sondern sogar einmal immun gegen "natürliche" Todesursachen machen? Daran glauben Anhänger des Transhumanismus, die sich auch in der Technologie-Branche tummeln. Mensch-Maschinen-Schnittstellen, modernste Medizin oder Gen-Manipulationen gelten als Weg zur Unsterblichkeit oder Überführung in ein neuartiges Wesen, sozusagen Menschen der nächsten Fortschrittsstufe. Die Idee ist nicht nur ethisch umstritten, auch ihre Realisierbarkeit ist alles andere als sicher.
Aber viele gegenwärtige Tech-Versprechen sind profaner. Sie richten sich an Konsumenten und locken vor allem mit Bequemlichkeit.
Das ist eine der beiden Strömungen, eine eher humanistische und liberale Techno-Religion, die auf dem Konsumismus der Gegenwart aufbaut. Das Versprechen ist ein gutes Leben hier und jetzt, mit der Hilfe von Technik. Doch dann gibt es die radikalere Vision, die eines kosmischen Bewusstseins, in der die Menschheit verschwindet. Ein "Internet aller Dinge", in der das Konzept von Individuen keine Rolle mehr spielt. Das erinnert fast schon an den Hinduismus, in dem der Mensch seine Identität im Brahma aufgehen lässt. Und Menschen sagen: Das ist möglich, wir brauchen nur eine Schnittstelle, über die Gehirne und Computer gegenseitig aufeinander reagieren können. Dann können wir mehrere Menschen an einen Computer anschließen haben wir ein Inter-Brain-Net.
Was würde das bedeuten?
Es könnte das Ende der Geschichte sein, das der klassischen Biologie, unserer Identität und dessen, was wir selbst über uns zu wissen glauben. Niemand weiß es. Wir wissen auch nicht, ob so etwas überhaupt einmal existieren wird - aber es gibt Menschen, die daran glauben.