Überwachungskapitalismus:Ein bisschen NSA steckt in jedem Supermarkt

2012 Consumer Electronics Show (CES) in Las Vegas

Bei smarten Fernsehern wird der Gewinn erst nach dem Kauf der Geräte erzielte - durch personalisierte Werbung.

(Foto: dpa)

Nach dem Kauf eines Smart-TV geht für Hersteller das Geldverdienen erst los, dank Überwachung und personalisierter Werbung. Auch der Staat macht mit - er zockt mit der Zukunft seiner Bürger.

Von Adrian Lobe

Aus der schönen neuen Welt der digitalen Technologien erreichen einen immer wieder Ungeheuerlichkeiten. So kündigte die US-Drogeriemarktkette Walgreens vor ein paar Tagen an, in ihren Filialen smarte Kühlregale zu installieren, die mit Kameras und Sensoren ausgestattet sind und Kunden personalisierte Werbung ausspielen. Mithilfe einer Gesichtserkennungssoftware erkennen die Kühlschränke Geschlecht, Alter des Kunden sowie den Wageninhalt. Auf Grundlage der Daten können Anzeigenkunden dann sehen, ob sich ihre Markenprodukte verkaufen und Rückschlüsse auf das Kaufverhalten ziehen. Mithilfe einer Iris-Tracking-Software soll das smarte Kühlsystem zudem in der Lage sein, die Blickrichtung des Kunden zu erfassen und sogenannte "heat maps" zu erstellen. Starrt der Kunde auf die Schokolade? Oder auf das Preisschild? Bleibt er zögernd vor der Limonade stehen? Wie lange bleibt der Kunde im Laden? Jeder Blick, jede Regung wird registriert.

Dass der Kunde selbst zum Produkt wird, ist eine Entwicklungstendenz, die sich im stationären wie im Onlinehandel schon länger abzeichnet. In Filialen der Supermarktkette Real sowie der Deutschen Post wurde im Jahr 2017 mit Gesichtserkennungssystemen experimentiert, um Kunden maßgeschneiderte Werbung auf Bildschirmen anzuzeigen. Der Datenschutzverein "Digitalcourage" stellte Strafanzeige - mit Erfolg: Der Testbetrieb wurde eingestellt. Trotzdem wird man den Verdacht nicht los, dass der Einsatz von Überwachungstechnologien in der Konsumwelt immer neue Barrieren einreißt, dass die Empörung mit jedem Mal abnimmt und irgendwann dem Fatalismus weicht, bis sich die Praxis den Entwicklungen einfach anpasst.

Bill Baxter, der Technologie-Chef des Elektronikherstellers Vizio, hat gerade in einem Interview mit dem Tech-Blog "The Verge" gesagt, dass sein Unternehmen Smart-TVs nur deshalb so günstig anbieten könne, weil Daten und Zugänge zu dem Gerät verkauft würden. Es gehe um eine "Post-Kauf-Monetarisierung". Das bedeutet, dass der eigentliche Gewinn erst nach dem Verkauf des Smart-TV verdient wird - mit personalisierter Werbung. Die schicken Elektronikgeräte sind quasi subventioniert. Anders formuliert: Die Kosten des Geräts sind nicht mit dem Kaufpreis abgegolten, sondern mit der späteren Datenlieferung. Es ist eine Art informationeller Ratenkauf, bei dem man das Gerät mit dem Kaufpreis anzahlt und mit Datenpaketen finanziert. Dass Vizio 2,2 Millionen Dollar Strafe bezahlen musste, weil es Daten von Millionen Nutzern ohne deren Einverständnis verkaufte, ficht das Management offenbar nicht an. Die Datenauswertung ist in der Gewinnfunktion bereits eingepreist.

"Bedingungen relativer Gesetzlosigkeit"

Die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff hat in ihrem Werk "Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus" auf mehr als 700 Seiten beschrieben, wie Konzerne mit Maschinenintelligenz als neuem Produktionsmittel überschüssige Nutzerdaten zu Vorhersageprodukten verarbeiten. Diese Vorhersageprodukte werden auf einer neuen Art von Markt gehandelt: den "Märkten für zukünftiges Verhalten". Geht es nach Zuboff, floriert das Geschäft vor allem deshalb, weil die "Verhaltensterminkontraktmärkte" weitgehend regulierungsfrei ablaufen. Tech-Konzerne würden unter den "Bedingungen relativer Gesetzlosigkeit" operieren. Die Frage ist, ob dieser Zustand der Gesetzlosigkeit schon vorher da war - oder er durch den Überwachungskapitalismus vielmehr erzeugt wird.

Der US-Medientheoretiker Michael Betancourt hat in einem Aufsatz für das Fachjournal CTheory ("The Demands of Agnotology: Surveillance") schon im Jahr 2014 darauf hingewiesen, dass der Einsatz von Überwachungstechnologien mit den "inhärenten Instabilitäten des digitalen Kapitalismus" zusammenhänge. Die unintelligente Zeichenproduktion durch Maschinen mache mehr Überwachung notwendig, welche wiederum so viele Daten produziere, dass ihre Interpretation unsicher werde. Der Datenkapitalismus muss also, um zu überleben, immer neue Daten produzieren und Unsicherheiten schaffen. Eine Art Zombie-Ökonomie. Die immanente Expansionslogik des Datenkapitalismus ist die Systemvoraussetzung dafür, dass aus der Raffinierung von Informationen überhaupt ein Mehrwert erzielt werden kann. Ohne die immer größer werdenden Archive könne die semiotische Produktion nicht voranschreiten.

Überwachung - hier widerspricht Betancourt Zuboff - sei ihr eigenes Endprodukt. Zuboff behauptet, der Überwachungskapitalismus sei lediglich eine Häutung des Kapitalismus, die sich systemtheoretisch gedacht in den Codes des Kapitalismus abspiele. Betancourt dagegen argumentiert, dass der Überwachungskapitalismus nicht isoliert betrachtet werden könne, sondern auch seine systemische Umwelt verändert. Die ubiquitäre Überwachung mache Autoritarismus zu einer "logischen Form dieser politischen Ökonomie".

Etwas von der NSA steckt in jedem Supermarkt

Der entscheidende Punkt ist nun, dass die "semiotische Auflösung der Realität" einen Markt schaffe, wo mangels Realitätscheck gar keine rationalen Entscheidungen mehr getroffen werden können und ein diffuses Unsicherheitsgefühl die Nachfrage nach Überwachung immer größer werden lässt. Die Überwachungsmärkte erweisen sich als hochdysfunktional, weil sie die eigentlichen Präferenzen und Informationen nicht abzubilden vermögen. Der NSA-Anwalt Stewart Baker brachte diese hyperreale Fabrikation von Bedeutung einmal unfreiwillig auf den Punkt, als er sagte: "Metadaten sagen absolut alles über das Leben von jemandem aus. Wenn man genügend Metadaten hat, braucht man keine Inhalte mehr." Übertragen auf das Supermarktbeispiel bedeutet das: Man muss nicht den Kühlschrank mit Waren füllen. Im Grunde reicht es, wenn man ihn mit Daten füttert.

Hier zeigt sich, welches Produkt entsteht, wenn sich Kontrollwahn und Profitgier verschwistern: die totale Entsubjektivierung. Es gibt bloß noch Metadaten, Strichcodes, Seriennummern. Alles wird auf Marktförmigkeit codiert. Aus einer anderen Perspektive betrachtet muss man feststellen, dass etwas von der NSA in jedem Supermarkt steckt. Ist das nun der Triumph des Überwachungskapitalismus oder des Überwachungsstaats? Militärische Tracking-Technologien kommen jetzt wie selbstverständlich im zivilen Bereich zum Einsatz und Marktforschung operiert mit den Methoden der Anti-Terror-Abwehr. Das macht deutlich, dass wir es mit einem neuen Sicherheitskomplex zu tun haben - jedoch einem paranoiden System, bei dem jeder Kunde, jeder Bürger auf dem Kontrollbildschirm erscheint.

Der Sicherheitsbegriff ist ja eigentlich anders gefasst. Der Staat, der an Bahnhöfen Gesichtserkennungssysteme einsetzt und, wie im Falle des Berliner Bahnhofs Südkreuz, Probanden mit Amazon-Gutscheinen ködert, will die Sicherheit im öffentlichen Raum erhöhen. Ein Unternehmen, welches das Sehverhalten seiner Kundschaft trackt, will sich mit der Technik die Sicherheit erkaufen, dass seine Werbemaßnahmen verfangen. Mit dem Siegeszug der Überwachung zeigt sich nun, dass die Sphären von öffentlicher und privater Sicherheit ineinander übergehen. Der Staat, der mit prädiktiven Algorithmen aus der Privatwirtschaft Verbrechen oder Sozialhilfebetrug vorhersagen will, agiert wie ein Zocker - er spekuliert auf das zukünftige Verhalten seiner Bürger. Wo ist der nächste Einbruch? Wo der nächste Missbrauchsfall? Die öffentliche Ordnung wird mit Daten gesichert.

Elektronikhersteller pfänden derweil die Privatsphäre und verkaufen Daten als Kreditverbriefung. Die verbrieften Rechte, also das, was die Demokratie konstituiert, werden damit zum Spekulationsobjekt. Niemand weiß, wie gefährlich diese Wetten auf die Zukunft sind. Überwachungskapitalismus ist bloß eine nette Formel für ein Hypothekengeschäft mit der Privatsphäre. Es werden auf den Termin- und digitalen Schwarzmärkten millionenfach Datenpakete und Zertifikate gehandelt. Wer garantiert, dass die algorithmischen Bonitätsprüfungen auch stimmen? Wo lagern die Schrottpapiere? Wann platzt die Datenblase? Würde der Staat als "buyer of last resort" die toxischen Papiere aufkaufen? Oder ist er selbst nicht mehr kreditwürdig, weil er den Ausverkauf seiner Bürger billigend in Kauf nimmt?

Der Soziologe Jean Baudrillard, der 2007 verstarb, warnte in seinen letzten Schiften vor einer Überhitzung der spekulativen "Ereignisbörse", in der es durch die Überproduktion von Zeichen zum Crash demokratischer Werte wie der Wahrheit kommen könne. Sicherheit ist in Überwachungsregimen ein Zustand, der bloß in den Modellen existiert. Es regiert die Paranoia. Daten erzeugen eine metastabile Ordnung, die immer mehr Daten benötigt, um sich zu stabilisieren - bis das System irgendwann abstürzt.

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