Süddeutsche Zeitung

Twitter:Wie sich nach Attentaten Gerüchte verbreiten

Nach den Morden von Nizza und München kursierten in sozialen Medien hanebüchene Falschmeldungen. Zum Glück gibt es ein wirksames Gegenmittel.

Von Alex Rühle

Nach dem Amoklauf von München beklagte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, es werde "täglich viel Blödsinn in sozialen Netzwerken verbreitet". Er bezog das auf die vielen Gerüchte, die am Freitagabend durch die Stadt gerast waren, Schüsse am Stachus, flüchtige Täter, die Polizei jagte in Mannschaftsstärke immer neuen Falschmeldungen hinterher . . . Nun hat Herrmann gewiss recht damit, dass in der Panik der ersten Stunden viel falsches Zeug im Netz weiterverbreitet wurde. Aber sein Satz klingt so, als werde aller Blödsinn undifferenziert und gleichberechtigt weiterverbreitet. Die Frage ist, ob das so stimmt.

Der Kommunikationswissenschaftler Nicolas Vanderbiest von der belgischen Universität Louvain betreibt das Blog Reputatio Lab, in dem er untersucht, wie das Netz in Krisen- und Katastrophenmomenten funktioniert. Vanderbiest hat nun erforscht, wie nach dem Attentat von Nizza Falschinformationen im Netz gestreut wurden, wie sie entstanden, verbreitet wurden und jeweils am Ende in sich zusammenbrachen. Für diese Studie las er Tausende Tweets, die in den Stunden nach dem Attentat über Twitter verschickt worden waren.

Kein Gerücht ist auf Twitter selbst entstanden

Es gab an dem Abend drei Gerüchte, die jeweils mit angeblichen Geiselnahmen in Zusammenhang standen. Erst hieß es, Täter hätten sich im Restaurant Buffalo Grill verschanzt. Später waren dann die Hotels Negresco und Méridien, die beide auf der Promenade des Anglais liegen, auf der der Attentäter mit seinem Lkw durch die Menschenmenge gerast war, die angeblichen Orte des Geschehens.

Als Vanderbiest die Tweets auswertete, stellte er schnell fest, dass alle drei Gerüchte ihren Ursprung nicht in der Twittersphäre hatten. Erstmals tauchte die Behauptung einer Geiselnahme auf Twitter um 23.13 Uhr auf. Ein junger Mann schrieb, eine "Information" erhalten zu haben über eine Geiselnahme im alten Nizza. Auf die Nachfrage, wo er das denn herhabe, schreibt er, Freunde, die in der Nähe des Tatorts lebten, hätten ihm die Info geschickt.

Es waren also vermeintliche Augenzeugen, die diese Falschmeldung in die Welt setzten. Der Tweet wurde kaum von anderen Twitterern geteilt, entwickelte also wenig Kraft. Wenige Minuten später tauchten dann verschiedene Tweets auf, die die Geiselnahme bereits als Fakt ausgaben. Vom Buffalo Grill "springt" das Gerücht über auf die beiden Hotels. Quelle ist bei den allermeisten der Infosender BFM TV, der einen Reporter vor Ort hat.

Reporter vor Ort wissen auch nicht immer mehr

Tweets ohne Quellenangabe wurden in den folgenden Minuten kaum weiterverteilt. Sobald es aber hieß, BFM hätte die Geiselnahme gemeldet, wurde drauflosretweetet. Der Witz ist nur: Die BFM-Reporter "vor Ort" sind ja in solch einem Fall auch nicht wirklich vor Ort, sondern müssen sich hinter Absperrgittern selbst ihren Reim machen auf das chaotische Geschehen, das sie schemenhaft, ausschnitthaft im Abenddunkel wahrnehmen.

Die Parallelen zum vergangenen Freitag sind augenscheinlich: n-tv, der Nachrichtensender der RTL-Gruppe, machte aus der Vermutung von "drei möglichen Tätern" einfach "drei Täter", was sofort über Twitter raste, und zitierte noch um kurz vor zehn einen Augenzeugen, der behauptete, der Täter laufe im Weihnachtsmannkostüm herum. Auf CNN erzählte eine Frau, sie habe gehört, wie der Täter Allahu Akbar gerufen habe, sie sei sich sicher, sie sei selbst Muslimin. Twitter quoll erneut über.

Die öffentlich-rechtlichen Sender waren anfangs kaum besser. Eckhart Querner war für die ARD ab kurz nach 18 Uhr in München vor Ort, wusste aber auch nichts. Mal sprachen er und der Nachrichtensprecher Jens Riewa im Hamburger Studio von drei Toten, dann von neun, sechs und acht. Erst als die ersten Meldungen der Polizei kamen, verwandelte sich diese Liveschalte von einer Art panischem Rätselraten in Richtung seriöser Berichterstattung.

Augenzeugen verwechselten Zivilpolizisten mit Terroristen

Bei den französischen Augenzeugen führte, ähnlich wie in München, die Fehlinterpretation von Polizeiaktionen vor Ort zu den ersten Gerüchten: Vor dem Negresco versammelte sich gegen halb elf ein Trupp Polizisten. Daraus wurde wohl die Vermutung einer Geiselnahme. In München hatten Augenzeugen Zivilpolizisten mit Schnellfeuergewehren oder Passanten mit Regenschirmen für Terroristen gehalten.

Man sieht aber auch, und das ist das Positive an Vanderbiests Auswertung, dass die Tweets der Polizei und des französischen Innenministerium um ein Hundert-, ja Tausendfaches häufiger weiterverteilt wurden als irgendwelche "privaten" Tweets. Eine Ausnahme gibt es: Marine Le Pen. Sie hat 1,1 Millionen Follower, und so ist es kein Wunder, dass ihre Tweets und Retweets über die vermeintlichen Geiselnahmen im Netz großen Widerhall fanden.

Ein einziger offizieller Tweet machte dem Geraune ein Ende

Als aber das Innenministerium, das unter @Place_Baveau twitterte, Samstagnacht um 0.37 Uhr bekannt gab, es habe keine Geiselnahme gegeben, wurde diese Nachricht über 3300-mal weitergeleitet. Die alten Tweets, die das Gerücht in der einen oder anderen Form variiert hatten, wurden danach kaum noch retweetet. Ja, man sieht bei Vanderbiest, dass die digitale Fieberkurve nach dem einen offiziellen Tweet fast senkrecht abbricht.

Was zeigt das? Viele Menschen in der Twittersphäre wissen zwischen einem ungeprüften Gerücht und einer tatsächlichen Meldung zu unterscheiden. Wer sich in solchen Situationen digital über den Stand der Dinge informieren will, sollte unbedingt der Polizei folgen. Umgekehrt sollte auch die Polizei sich überall ins digitale Getümmel werfen. Es ist höchste Zeit, dass in Deutschland alle Polizeipräsidien, so wie München das bereits mustergültig praktiziert, rund um die Uhr auf Twitter und Facebook präsent sind

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SZ vom 28.07.2016/sih
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