Süddeutsche Zeitung

Tim Berners-Lee: Sorge um das Web:Ausgeschnüffelt und zensiert

Tim Berners-Lee erfand vor 20 Jahren das World Wide Web, zum Geburtstag macht er sich Sorgen um sein Baby. Wie stark ist die Internetfreiheit gefährdet?

Niklas Hofmann

Die Feierlichkeiten zum 20. Geburtstag des World Wide Web ziehen sich ja nun auch schon seit bald zwei Jahren hin. Im März 2009 feierte die Kernforschungsorganisation Cern schon einmal den Tag, an dem ihr damaliger Mitarbeiter Tim Berners-Lee den ersten Vorschlag für das Hypertext-Format machte.

Vor drei Wochen erhoben manche das Glas auf das zwanzigste Jubiläum des ausformulierten Projektantrags. Man könnte aber auch noch im August 2011 jubeln, da wird es dann 20 Jahre her sein, dass das Web öffentlich zugänglich wurde.

Berners-Lee selbst bevorzugt es, den Geburtstag in den kommenden Wochen anzusetzen. Schließlich war es ihm im Dezember 1990 auf seinem Cern-Computer gelungen, die erste Website und den ersten Browser fertig zu stellen.

Nicht jedem großen Erfinder ist es ja vergönnt, den Aufstieg seines geistigen Kinds auf den Höhepunkt des Erfolges zu erleben und die ihm gebührende Anerkennung zu ernten. Sofern Klio auch für die Technikgeschichte zuständig ist, hat sie es also mit Tim Berners-Lee ähnlich gut gemeint wie mit Benz, Edison oder Marconi. Man würde sich deshalb einen glücklichen Mann vorstellen.

In der Zeitschrift Scientific American hat der hoch geehrte Sir Timothy John Berners-Lee aber nun dem Web einen Geburtstagsgruß verfasst, in dem er klingt wie ein Vater, dessen bis dato wohlgeratener Spross plötzlich in mehr als zweifelhafte Kreise geraten ist. Da macht sich jemand Sorgen um sein Baby.

Facebook als Datensilo

Schon der Titel "Lang lebe das Web" ist eine Antwort auf die viel diskutierte Titelgeschichte "Das Web ist tot, lang lebe das Internet" des US-Magazins Wired aus diesem Sommer. Die Diagnose ist weitgehend dieselbe. Nur will Berners- Lee statt der Totenglocken des Wired- Chefredakteurs Chris Anderson lieber die Alarmglocken läuten.

Seine Kritikpunkte sind dabei allesamt nicht neu, bekommen aber aus seiner Feder ein anderes Gewicht. Es geht ihm aber auch um viel. Für Berners-Lee ist das Web der entscheidende Garant dafür, ob die Werte von Magna Charta und US-Verfassung in einer digitalisierten Welt überdauern werden, ob man frei leben kann, frei von der Angst ausgeschnüffelt, zensiert oder gefiltert zu werden. Drei große Bedrohungen für diese Freiheit macht er im Augenblick aus.

Die Universalität des Netzes, die das unterschiedslose Verlinken über Hypertext zu Seiten egal welchen Inhalts ermöglicht, macht für Berners-Lee das wesentliche Gestaltungsprinzip aus, das "Nützlichkeit und Wachstum" des Webs zugrunde liege. Facebook und anderen Social Networks, namentlich LinkedIn und Friendster, wirft er vor, die Datenprofile, die ihre Nutzer anlegten, wie kleine Silos zu gestalten, scharf voneinander, vor allem aber vom großen, weiten Netz abgegrenzt.

Vor dem Web versteckt

Denn weil die einzelnen Informationen nicht über individuelle URLs, also Netzadressen verfügen, entziehen sie sich der Verlinkbarkeit - mit zerstörerischen Folgen. "Je stärker diese Art der Architektur in Gebrauch kommt, und je stärker das Web fragmentiert wird, desto weniger werden wir uns eines einzigen, universalen Informationsraums erfreuen können", mahnt er.

Die Entwicklungs- und Innovationsfähigkeit des Webs beruht für ihn darüber hinaus auch auf dessen prinzipieller Offenheit, die sich vor allem in der freien Nutzbarkeit der Programmierstandards spiegelt. Firmen wie Apple mit seinem iTunes Store würden dagegen immer größere Teile des Internets einhegen und dem offenen Web entziehen.

Apple etwa benutzt für seinen Musikverkauf keine http-Adressen, sondern solche, die sich in keinem Browser und nur über das hauseigene Shop-Programm öffnen lassen. Auf einen Song im iTunes-Store kann man von außen also nicht verlinken.

Berners-Lee beunruhigt vor allem, dass Firmen, die nach dem Prinzip des umfriedeten Gartens verführen, eine Marktmacht gewinnen könnten, die geeignet wäre, das Wachstum außerhalb der Gärten in Mitleidenschaft zu ziehen.

Neben großen Anbietern von Inhalten wie Apple und Facebook sind es auch die Internet-Service-Provider, die Berners- Lee ins Visier nimmt. Noch einmal unterstreicht er seine bekannte Position als Verteidiger der Netzneutralität, also des Prinzips, dass es den Telekommunikationsfirmen verboten sein muss, im eigenen Besitz befindliche oder von Kunden teuer bezahlte Dienste in der Geschwindigkeit des Datenverkehrs bevorzugt zu behandeln.

Dass Google und der US-Telefonriese Verizon sich im Sommer darauf geeinigt haben, Mobilfunkverbindungen von diesem Prinzip auszunehmen, ist für Berners-Lee "bizarr" und eine Gefahr vor allem für die Menschen in ländlichen Gebieten ohne andere Zugangsmöglichkeiten ("von Utah bis Uganda", wie er schreibt). Hier bekräftigt er seinen Glauben an die Notwendigkeit staatlicher Marktregulierung.

An anderer Stelle jedoch geht in seinen Augen auch vom Staat eine Gefahr aus. Bedrohlich findet er nicht nur die notorischen Netzschnüffler und -zensoren wie China. Ihn beunruhigen auch Nachrichten aus Ländern wie Frankreich, Großbritannien und den USA, wo die Politik Urheberrechtsverletzern den Zugang zum Internet schon jetzt ganz oder teilweise sperrt oder solche Pläne zumindest schmiedet.

Freier Zugang zum Netz ist für Berners-Lee ein elektronisches Menschenrecht, das er sogar ausformuliert: "Kein Mensch und keine Organisation darf der Fähigkeit beraubt werden, mit anderen in Verbindung zu treten, es sei denn nach einem geregelten Prozess und geltender Unschuldsvermutung."

Schon vor bald zehn Jahren hat Berners-Lee skizziert, wie er sich selbst die Zukunft des Web vorstellt. Das semantische Web, die Verknüpfung von Daten anstelle von Seiten, bleibt nach wie vor seine Vision für ein optimiertes, dünnmaschigeres Netz, das präzisere Antworten aus dem Meer des Wissens fischen könnte.

Offene Türen zugezogen

Doch in seinen leicht hilflosen Handlungsanweisungen ("Entwickler, Firmen, Regierungen und Bürger sollten offen und kooperativ zusammenarbeiten") liest sich Berners-Lees Brandschrift weniger zwingend als in der Analyse."

Er hat ja recht, wenn er beschreibt, dass Facebook daran gelegen ist, seine Nutzer möglichst umfassend an seinen Dienst zu binden und ihnen etwa die Mitnahme ihrer Freundesliste zu irgendeiner anderen Plattform im Netz zu erschweren.

De facto stört Nutzer an Facebook aber nun gemeinhin nicht, dass der Dienst nicht offen genug mit den ihm anvertrauten Daten umgehe, sondern vielmehr, dass er deren Privatheit nicht ausreichend schütze, etwa indem er solche Daten an Geschäftspartner weitergibt, ohne das Einverständnis der Betroffenen. So gut wie jedes Mal, wenn Facebook seine Datenschutzvoreinstellungen (oft stillschweigend) revidiert hat, hat das Unternehmen dabei versucht, die Spielräume für externe Zugriffe zu erweitern.

Und wo Facebook Türen nach außen aufgestoßen hat, war die Sorge eines Großteils der Nutzer, diese so schnell wie möglich wieder zuzuziehen. Auf vollständige Permeabilität im Datenverkehr warten hier wohl die wenigsten sehnsüchtig.

Lesen Sie hierzu Berichte in der Süddeutschen Zeitung.

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Quelle:
SZ vom 27.11.2010/joku
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