Social Media:Wie Tiktok die Ära der Filterblasen beenden könnte

Social Media: Inzwischen nutzen mehr als 800 Millionen Menschen weltweit Tiktok.

Inzwischen nutzen mehr als 800 Millionen Menschen weltweit Tiktok.

(Foto: Stefan Dimitrov)

Wer bei Tiktok berühmt werden will, braucht keine Follower: Eine gute Idee reicht, eine passende Melodie hilft enorm, den Rest erledigen Algorithmen. Das hat aber einen Preis.

Von Philipp Bovermann

Wieder einmal ist eine digitale Plattform dabei, die Art zu verändern, wie Menschen im Internet miteinander in Beziehung treten. Zum ersten Mal handelt es sich dabei um das Produkt einer Kultur, für die nicht der Einzelne und seine Freiheitsrechte das Maß der Dinge sind. Dennoch - oder sogar gerade deshalb - könnte nun eine in China entwickelte App einige der klassischen Ideen über digitale Technologie wiederbeleben, die inzwischen so oft zu Grabe getragen wurden. Die Rede ist von Tiktok.

Von Facebook an waren soziale Medien als soziale Netzwerke angelegt. Die ersten Facebook-Freunde sind richtige Freunde, auch auf Twitter bauen sich die Nutzer aktiv ihren Kreis auf, von dem sie über den Zustand der Welt informiert werden wollen. Der vieldiskutierte Filterblasen-Effekt ist weniger ein technologischer, wie häufig behauptet, als vielmehr in erster Linie ein sozialer: Was man sieht, hängt davon ab, bei wem man das Häkchen gesetzt hat. Erst nach und nach begannen die Plattformen, die Inhalte zu sortieren, die diese Kontakte veröffentlichen. Unsichtbare Algorithmen entschieden zunehmend selbstbewusst, was interessant für den jeweiligen Nutzer sein könnte und was nicht. Aber der limitierende Faktor bleiben die Grenzen des eigenen Netzwerks, mit dem sich inszenierenden Ich als Fixpunkt. Die Bühne gebührt dem Individuum.

Tiktok hingegen ist, wie die New York Times es treffend formuliert hat, "more machine than man". Anstatt Inhalte innerhalb von Netzwerken zu verschieben, bauen die Sortier-Algorithmen die Netzwerke um die Inhalte - eine, wenn man so will, kopernikanische Wende in der digitalen Kommunikation. Zwar kann man noch immer bestimmten Menschen folgen, das Herzstück aber ist die "For You"-Seite. Dort kann theoretisch alles landen, was in Tiktok gerade weltweit umläuft. Die Algorithmen zeigen neue Inhalte zunächst Nutzern, die ähnliche Interessen haben. Wenn die hängen bleiben, vielleicht sogar ein Like dalassen, wird der Kreis erweitert, immer wieder - bis es möglicherweise Millionen Leute auf der ganzen Welt gesehen haben, auch wenn der Nutzer, von dem es stammt, noch gar keine eigenen Follower hat, keine Reichweite im klassischen Sinn. Ein bisschen so wie auf Youtube, mit dem entscheidenden Unterschied, dass Youtube viel stärker eine Videoplattform ist, Tiktok hingegen ein soziales Medium in Videoform. Kein selbstgemachtes Internetfernsehen, sondern ein Debattenraum. Jeder kann dort mit einer knalligen Idee durch die Decke gehen. Unübersichtlichkeit ist der Preis. Man weiß nie, wer zum Akteur in der Öffentlichkeit wird.

Jeder kann mit einer knalligen Idee durch die Decke gehen, Follower braucht man dazu keine

Zum Beispiel der hawaiianische Feuerwehrmann Michael David Clark. Tiktok hat er erst vor Kurzem entdeckt, aber sein zweites Video hat gegenwärtig bereits mehr als 1,4 Millionen Likes. Clark kommentiert darin den Clip einer anderen Nutzerin, die Verschwörungstheorien über die Feuer in Kalifornien verbreitet. Für die angeblichen Ungereimtheiten, die sie aufdeckt, gibt es einfache Erklärungen. Wer sollte die besser kennen als ein Feuerwehrmann? Die reinen Fakten hätte ebenso gut ein Experte mit klassischer Netzwerk-Reichweite liefern können. Aber für diesen - und nur für diesen - Zusammenhang haben die Algorithmen stattdessen Michael David Clark aus Hawaii hervorgezaubert und sein Video rund um die Welt gejagt.

Auch auf Tiktok kann man Leuten folgen, es gibt Influencer, aber die Zahl der Follower ist nur noch ein Faktor im algorithmischen Auswahlprozess. Sie stellt nicht mehr als absolute Größe dar, wie viele Menschen jemand mit seinen Inhalten erreichen kann. Die aktuell gängigen sozialen Plattformen haben das politische Kräfteverhältnis verschoben, weil sie die über Institutionen und klassische Medien etablierten Reichweiten aufbrachen und den Kuchen neu verteilten. Davon profitierten marginalisierte Stimmen - leider auch die von Extremisten. Das Prinzip von Tiktok beschneidet nun beide: die alten und die neuen, im Netz entstandenen diskursiven Machtbasen. Es begünstigt laufend neue Stimmen, ständig neue Akteure.

Man braucht lediglich die Idee, und es hilft, wenn die Idee eine Melodie hat. Im Fall von Feroza Aziz ist es die Melodie eines Kinderlieds. "If you're boycotting Mulan, clap your hands", singt die junge Aktivistin, klatscht zweimal in die Hände, wiederholt die Zeile - und dann rattert sie in einem einzigen Satz runter, dass Disney den Film in der chinesischen Region Xinjiang gedreht hat, ohne sich daran zu stören, dass dort Uiguren interniert und gefoltert werden, bevor sie nochmals auffordert, in die Hände zu klatschen. In der Hoffnung, dass das Geräusch irgendwann in den Chefetagen von Disney zu hören ist. Vielleicht sogar in Xinjiang.

Bei Tiktok wird viel gesungen und getanzt. So ähnlich hat sich der Philosoph Thomas Hobbes den Staat vorgestellt: als Ungetüm aus tausend Leibern

Wer auf Tiktok gehört werden möchte, der muss Memes erschaffen, also Internet-Trends, auf die sich andere beziehen, die sie aufgreifen und variieren können. Vor dem Aufkommen der Plattform waren das meistens lustige Bildchen und tendenziell war es eher etwas für Nerds. Auf Tiktok sind die Nutzer selbst Teil des Memes - sie performen es. Dass auf der Plattform so viel getanzt und gesungen wird, ist nur der offensichtlichste Teil einer bestimmten Art von Inhalten und einer dahinterliegenden Logik: Die online inszenierten Körper der Nutzer sind lediglich als Teil umlaufender Ideenströme relevant und politisch wirksam. Ein bisschen so, wie sich der Philosoph Thomas Hobbes den Staat dachte - als einen Leviathan, ein Ungetüm aus tausend Leibern. Diese Leviathane entstehen unsichtbar im Maschinenraum der Plattform. Dadurch fließt diskursive Macht von den Individuen auf sie ab.

Tiktok bemüht sich nach Kräften, diese Macht herunterzuspielen. Es möchte als ein positiver, lustiger Ort wahrgenommen werden, an dem Politik keine Rolle spielt. Was das hinter der Plattform stehende Unternehmen Bytedance dafür unternimmt, kam durch Leaks interner Dokumente ans Licht. Die Konzernzentrale in Peking hatte die Weisung ausgegeben, die Reichweite von Videos herunterzuschrauben, wenn darauf beispielsweise dicke, hässliche oder arme Menschen zu sehen sind, wenn sie "die nationale Einheit" gefährden oder die Geschichte eines Landes "verschandeln". Bytedance erklärte diese Anweisungen als anfängliche Versuche, mit denen Mobbing verhindert werden sollte, heute würden sie nicht mehr praktiziert. Im September allerdings erschien ein Bericht, dem zufolge Hashtags mit Bezug auf queere Themen in verschiedenen Sprachen - etwa Russisch und Arabisch - gelöscht worden seien. Man konnte sich also nicht mehr die Videos anzeigen lassen, die diese Hashtags verwenden. Das Unternehmen spricht gegenüber der SZ von einem technischen Fehler.

Tiktok sorgt für Harmonie im Netz, so wie in China Klimapolitik gemacht wird: per Verfügung von oben. Die, positiv formuliert, sehr robuste "Content Moderation" auf der Plattform verrät eine gänzlich andere Geisteshaltung als etwa die von Facebook, wo man, mit Verweis auf die Meinungsfreiheit, lange Zeit überhaupt keine Eingriffe machen wollte - ein paar Jahre später war die Grenze des Sagbaren verschoben und das Netz zu einem Ort geworden, für den gern die Modevokabel "toxisch" verwendet wird. Tiktok fühlt sich anders an, lustig und frei, sogar die politischen Inhalte, die es durchaus massenhaft gibt. Eine im Juli veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Gesichter in Tiktok-Videos mit Bezug auf die US-Wahl wesentlich häufiger die Emotionen "Glück" oder "Überraschung" zeigten als "Ärger" oder "Traurigkeit".

Tiktok fühlt sich lustig und frei an. Vielleicht ist es schwierig, böse zu gucken, wenn man singt

Vielleicht ist es schwierig, böse zu gucken, wenn man singt und "Reaction Videos" postet, als Teil eines spontanen Ideenstroms, der durch das Netz fließt - gemeinsam mit Gleichgesinnten, statt als einsam sich immer wieder ablichtendes Ich auf der Bühne seiner persönlichen Echokammer, wo man beklatscht, aber auch mit faulen Tomaten beworfen wird.

Tiktok bietet - zu einem hohen Preis - Lösungen für das viel beklagte Problem der Aggressivität im Netz. Die derzeit verbreiteten Social-Plattformen gehen vom Individuum aus und stellen es einem Chor von Stimmen gegenüber, der jede Äußerung mit einem kollektiven Echo beantwortet. Deshalb kann der Einzelne nicht mehr nach Belieben jede Garstigkeit in die Welt hinausblasen. Schon lange brüllt er gegen einen lauter werdenden Chor von Andersdenkenden an und ruft "Cancel Culture", wenn von diesen zurückschallt, was es nicht hören will. Für Nietzsche war das die Geburt der Tragödie: der Moment, in dem der Chor den Einzelnen überstimmt und sich das Individuum in der Musik auflöst, in einer entfesselten Flut von Zeichen und Stimmen. Der Moment, in dem es zu tanzen beginnt.

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