Süddeutsche Zeitung

Start-up-Szene sucht das nächste große Ding:Programmieren, kampieren und derweil stagnieren

Es fehlt der evolutionäre Elan. Obwohl in Berlin das Geschäft mit dem Internet boomt und Tausende zu einer Start-up-Konferenz zusammenkommen, fragen sich alle, was das nächste große Ding sein könnte. Zwanzig Jahre nach Erfindung des Internets macht sich erstmals das Gefühl von Stagnation breit.

Michael Moorstedt

Im Sommer 2012 brodelt in Berlin das Geschäft mit dem Web. Große Technik-Blogs wie Gigaom, Venturebeat und auch das Wall Street Journal loben die lokale Gründerszene in höchsten Tönen, selbst die Stadtväter haben endlich was gemerkt - mit der Bekanntgabe einer halben Million Euro schweren Marketingkampagne wollen sie an Start-up-Stimmung anknüpfen. Und dann gastierte auch noch - nach Stationen in Spanien, Mexiko und Ecuador - zum ersten Mal die Campus Party in Berlin. Sie hat nach eigenen Angaben 10 000 Besucher und wäre damit größer als re:publica, TEDx und next, also all die anderen Internet-Konferenzen zusammen.

Mal angenommen, für sechs Tage in der vergangenen Woche hätten sich also wirklich junge und kluge Menschen in Europas spannendster Start-up-Stadt versammelt, um ihre Versionen der Zukunft vorzustellen - dann müsste jetzt eigentlich klar sein, wie es weitergeht mit dem Netz, und wo das nächste große Ding sich gerade zusammenbraut. Ist es aber nicht. Die Wahrheit ist eher: Niemand weiß es so recht.

Erkennbar ist zunächst nur, dass die sogenannte Netzgemeinde keine Subkultur mehr ist. Man merkt es sofort, wenn man das Gelände der Campus Party am alten Flughafen Tempelhof betritt. Grimmiges Securitypersonal durchforstet die Taschen, Besucher müssen ihre Laptops registrieren lassen. Im Inneren stehen die Zelte in Reih und Glied, und auf jedem prangt ein Sponsorenlogo. Werbeagenturen haben die Kultur des Internet längst als Marketingvehikel entdeckt, bald überkommt einen das Gefühl, dass auch die eigene digitale Existenz immer mehr von Unternehmen und Sponsoren vereinnahmt wird.

Auch sonst fehlt der revolutionäre Elan. Immer wieder fällt das Wort vom Kirchentag. Dieser Vergleich stimmt zumindest in dem Punkt, dass alte Menschen der Jugend hier gute Worte mit auf den Weg geben - von der Kanzel des Keynote-Podiums herab. Teilen, sagt etwa Paulo Coelho - Schnulzen-Autor und gleichzeitig eifriger Social-Media-Nutzer - am ersten Tag mit professoraler Gravitas, sei das Wichtigste im Leben. Nichts ist unmöglich, predigt tags darauf Yossi Vardi, Start-up-Guru aus Israel - wenn man nur an sich glaube.

Positive Grundstimmung ist zu spüren

Am Freitag lässt der Wirtschaftsexperte Don Tapscott verlauten, die Welt sei defekt, doch die Besucher stünden im Zentrum eines neuen Modells, das Besserung verspräche. Neelie Kroes, EU-Kommisarin für die Digitale Agenda, lobt das Talent der jungen Leute, und am letzten Tag steigt Sir Tim Berners-Lee, Erfinder des World Wide Web und damit veritabler Halbgott, in Tempelhof ab und stellt noch einmal klar, dass Hacker nicht die Bedrohung, sondern die Hoffnung seien. Man kann also durchaus behaupten, dass eine positive Grundstimmung zu spüren ist.

Das Gefühl, dass dennoch Stillstand herrscht, erklärt sich aus der kurzen Geschichte des Netzes und seiner Innovationen. Die Daten der großen Epochenbrüche sind darin gnadenlos eng getaktet. Oder war das nur bisher so? Am 15. Januar 2001 zum Beispiel ging die erste Version der Wikipedia online, es begann das bisher größte publizistische Projekt der Menschheit. Kaum drei Jahre später, am 4. Februar 2004, erblickte Facebook das Licht des Web - und bald war "social" das Mantra, das Technik-Evangelisten gebetsmühlenartig wiederholten. 2006 ging Twitter live und im Jahr darauf hatte man mit dem iPhone auch das notwendige Werkzeug zur Hand, um all diese Dienste jederzeit und an jedem Ort zu nutzen.

Die Erfolgsformel bleibt gleich

Würden wir uns im Jahre 2012 noch immer im selben Rhythmus bewegen, wäre es jetzt höchste Zeit für den nächsten, alles verändernden Umbruch - oder, wie das auf Internet-Tagungen gerne genannt wird - für die nächste Disruption. Stattdessen bleiben die Parolen die gleichen. Unter dem riesigen Vordach des alten Flughafens sind auf mehreren Hundert Metern Computerarbeitsplätze aufgebaut, große Container schützen vor der Sonne. "If you have a brain, then you are a Start-Up", steht auf ihnen geschrieben, oder "Coders of the world, unite!". Sind das Motivations- oder Durchhaltesprüche?

Klar ist jedenfalls, dass die aktuellen Start-ups, in Berlin und anderswo, letztendlich an immer feineren Variationen der immer gleichen Netz-Gebote arbeiten. SoLoMo heißt schon seit langer Zeit die fix angepinnte Erfolgsformel - soziale, lokale und mobile Anwendungen müssen her, oder eine Kombination aus ihnen. Und egal, wohin man derzeit blickt, recht viel mehr wird einem nicht angeboten.

Live-Hacking, Computerspielturniere und kollektives Brainstorming gibt es an jeder Ecke, selbsternannte Cyborgs geben sich die Ehre, Roboter machen Musik. Und doch hört man immer wieder den gleichen Satz: Es wird Zeit, dass sich was Entscheidendes verändert. Fragt man beim Gesprächspartner nach, welcher Natur dieses neue Paradigma denn sein solle, wird es nebulös. Etwas Neues eben. Etwas Großes, Einzigartiges. Eine Disruption.

Dabei ist es ist nicht so, dass es an Parolen und Schlagwörtern mangeln würde. Das "Internet of Things", die vollständige Vernetzung bislang analoger Objekte, bietet ein kaum überschaubares Potenzial; die Ideen des Quantified Self, der vollständigen Vermessung des eigenen Körpers, werden erst langsam einer größeren Öffentlichkeit bekannt und könnten das Gesundheitswesen umkrempeln; und nicht zuletzt ist da die Vorstellung, dass 3D-Drucker, wären sie nur weiter verbreitet, eine neue industrielle Revolution auslösen könnten. All diesen Konzepten ist aber auch gemein, dass sie bereits seit Jahren existieren und nur von einer kleinen Kaste von Technik-Brahmanen genutzt werden. Ein Durchbruch in die Mainstream-Gesellschaft ist nicht in Sicht.

Wo Antworten fehlen, bleibt dann immer noch der Wechsel zur nächsten Web-Konferenz. Am Donnerstag, nur ein paar Kilometer Luftlinie von Tempelhof entfernt, in der vermeintlich hippen Verwerfungszone zwischen Kreuzberg und Treptow, findet die "Creative Sandbox Berlin" statt. Mit dieser Sandbox-Reihe will Google die Start-up-Kultur anheizen, in New York und San Francisco hat das schon geklappt, nun hat man die Berliner Szene auf dem Radar. Wenn die Campus Party wie der Kirchentag funktioniert, dann wirkt diese Veranstaltung wie das Motivationsseminars eines großen Versicherungsmaklers. Rein kommt man hier nur mit einer persönlichen Einladung. Ablenkung ist nicht gern gesehen, Google verlangt volle Aufmerksamkeit.

Den Erfolg solcher Konferenzen lässt sich sehr leicht am Publikum ablesen. Wenn in den Zuschauerreihen die Smartphone-Displays aufleuchten, macht der Vortragende einen schlechten Job. Bei Googles Sandkasten-Konferenz sind die Reihen der Zuschauer in kühles blaues Licht getaucht, reduziertes Mobiliar steht herum, alles trägt die Google-Farben Grün, Blau, Gelb und Rot. Die Gäste können mittels eines Chips über die Erfolgswahrscheinlichkeit der vorgestellten Projekte abstimmen - und müssen gleichzeitig darauf achten, nicht von einer der umherfliegenden Quadrocopter-Drohnen gerammt zu werden. Zwischen Amuse Gueules in Minieinweckgläsern und wohl temperiertem Chardonnay unterhalten sich die Macher und Gründer darüber, wie man die bestehenden Geschäftsmodelle weiter optimieren könne. Währenddessen perlt seichte Lounge-Musik am Spreeufer.

Die Sehnsucht nach Neuem ist zu spüren

Auch hier hängt am Ende vor allem eine Frage in der Luft: Was bleibt? Von welchen Ideen wird man noch mal etwas hören, welche Phänomene sind wirklich verfolgenswert? Niemand mag sich da festlegen. Die Sehnsucht nach etwas Neuem ist dagegen wieder fast physisch zu spüren - verbunden mit dem Gefühl, einen Endpunkt erreicht zu haben.

Stellt sich da langsam eine Art digitaler Ennui ein? Das Netz ist mittlerweile komplett mit dem Offline-Leben verwoben. Man hat die technischen Mittel, die gesellschaftliche Akzeptanz, auch am Geld mangelt es nicht - umso dringender will man also wissen, wo es denn bleibt, das nächste große Ding. Vielleicht ist es auch nur ungewohnt, dass sich - mehr als zwanzig Jahre nach seiner Erfindung - das erste Mal so etwas wie Stagnation im Web ausbreitet.

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Quelle:
SZ vom 27.08.2012/pauk
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