Spott über #Neuland-Vergleich:Siedler ohne Selbstkritik

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Hohn statt Hilfe: Wenn Angela Merkel das Internet als "Neuland" bezeichnet, ist der Spott in den sozialen Netzwerken groß. Doch so überlassen sie die Entscheidungen Menschen, die sich weniger gut auskennen. Auch deshalb wurde im vergangenen Jahr das Leistungsschutzrecht verabschiedet.

Ein Kommentar von Johannes Boie

Xerxes I., der Perserkönig, ließ einmal das Meer auspeitschen, weil es seinen Männern nicht gelang, eine Brücke über eine Meerenge zu schlagen. Auch 2500 Jahre später erfreuen sich leicht groteske Reaktionen noch großer Beliebtheit. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird gerade im Netz auf Hunderten Facebook-Seiten, Homepages und in zahllosen Tweets lächerlich gemacht. Weil sie während des Besuchs von Barack Obama in Berlin den Satz äußerte, das Internet sei "für uns alle Neuland". Darauf mal wieder ein Aufschrei im Netz.

Tausende verbreiten Fotomontagen, besonders beliebt ist ein Bild, das zeigt, wie Merkel mit Christoph Kolumbus Neuland entdeckt. So groß ist die Wut der digitalen Wellenpeitscher, dass sich Regierungssprecher Steffen Seibert zu einer Präzisierung veranlasst sah: Die Kanzlerin halte das Netz "rechtspolitisch" für Neuland.

Rechtspolitisch, ja. Aber doch nicht nur das. Ein knappes Viertel aller erwachsenen Deutschen ist überhaupt nicht online, viele von ihnen werden es auch nicht mehr sein. Wer eine Suchmaschine für ein Gerät vom Media-Markt hält, wird seine Gewohnheiten nicht mehr groß umstellen. Für diese Menschen ist das Netz nicht mal Neuland, sondern ein fernes Land, unerreichbar. Andere wiederum tasten sich langsam heran, sie sind zwar etwas weiter, aber selbst für diese Gruppe ist das Netz noch Neuland: wirtschaftlich, publizistisch, gesellschaftlich, juristisch.

Jeden Tag wird in der Politik, in Unternehmen, in Familien und Schulen um den richtigen Umgang mit dem Netz gerungen. Wie schützt man sich, wie verdient man Geld, wie findet man Freunde, was ist erlaubt und was verboten? Das Unfertige, das Unentdeckte und die Möglichkeit, die Dinge noch zu formen - all das macht das Netz so spannend.

Wissen weitergeben, anstatt über die Neuankömmlinge zu lachen

Merkel formulierte ihren Neuland-Satz auf eine Frage zur Internet-Spionage des amerikanischen Geheimdienstes NSA. Denn dass ein Staat Internetkommunikation im jetzt bekannt gewordenen Ausmaß mithört, das ist ebenfalls neu. Welche Kompromisse zwischen Freiheit und Sicherheit müssen im Netz gemacht werden? Man wird es herausfinden müssen.

Bei all diesen Fragen ist die Gesellschaft sehr dringend angewiesen auf diejenigen, die sich im Netz schon zu Hause fühlen. Doch statt ihr Wissen weiterzugeben und der nachkommenden Masse zu helfen, stehen die ersten Siedler von Neuland lachend am Strand und amüsieren sich über die Menschen, die eben erst ihre Boote verlassen. Das ist dumm.

Wer sich mit Hohn und Spott begnügt, überlässt anderen die Entscheidungen; und zwar, wenn es blöd läuft, Menschen, die sich weniger gut auskennen. Die aber begreifen, dass zur Netzpolitik nicht nur das Netz gehört, sondern vor allem die Politik. Auch deshalb wurde im vergangenen Jahr das Leistungsschutzrecht verabschiedet, ein Gesetz, das die Netz-Szene enorm bekämpft hatte. Einige Blogger und Twitterer haben das erkannt, erste Selbstkritik ist online zu finden. Die Methode Xerxes nutzt niemandem.

© SZ vom 21.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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