Soziale Kontrolle in China:"Menschen und Unternehmen bekommen noch mehr Macht, Ihr Leben zu zerstören"

2017 Chaos Communication Congress

Auf dem Chaos Communication Congress in Leipzig wird viel über Überwachung diskutiert.

(Foto: Getty Images)

China setzt mit Hilfe von sozialen Punktesystemen Anreize, sich im Sinne der Regierung zu verhalten. Die Wissenschaftlerin Katika Kühnreich erklärt, wie diese soziale Kontrolle funktioniert - und was dem Westen blüht.

Von Jannis Brühl, Leipzig

Nach dem Vortrag von Katika Kühnreich bilden die Zuschauer neben der Bühne eine Menschentraube um die Sinologin. Sie haben die Mischung aus Erregung und Grusel im Gesicht, die so nur Deutsche bekommen, wenn sie gerade einen Vortrag über unheimliche Technologien gehört haben, in diesem Fall: die chinesischen "Social Credit Systems", kurz SCS.

Diese sozialen Kredit-Systeme weisen chinesischen Bürgern einen Punktestand zu, der sich aus Online- und Offline-Daten über sie zusammensetzt. Je nachdem, wie sie sich verhalten, steigt oder sinkt er. Die SCS lösen bei vielen das Gefühl aus, Totalüberwachung sei nun endgültig Realität. Kühnreich erforscht das Thema für ihre Doktorarbeit. Ihre ersten Erkenntnisse trägt sie auf dem Jahreskongress des Chaos Computer Club in Leipzig vor, dem europaweit größten Hackertreffen.

Nach dem Vortrag (hier als Video) scheint nur eine junge Chinesin nicht zufrieden. Sie entgegnet Kühnreich: "Sie haben einige Sachen gesagt, die Leuten ein schlechtes Bild von China vermitteln." Dabei hatte Kühnreich ihren Auftritt mit den Worten begonnen: "Dieser Vortrag ist kein China-Bashing, sorry." Ihre These nämlich lautet: Was in China passiert, ist keine exotische Schnapsidee einer Diktatur in Fernost, sondern Ausdruck eines weltweiten Trends. "Alle organisierten Gesellschaften sind auf gewissen Ebenen kontrolliert, nicht nur China."

Hinzu komme, dass Staaten und Unternehmen ihre Bürger und Kunden anhand der immer größer werdenden Datensammlungen bewerten. Kühnreich verweist auf das Datensammeln westlicher Regierungen, das Edward Snowden enthüllte.

Die wichtigste Erkenntnis bezüglich China: Es gibt nicht das eine System. Die Systeme von acht Unternehmen konkurrieren miteinander, an ihnen beteiligen sich unterschiedlich viele Bürger. Zudem gibt es regionale Systeme der Behörden selbst. 2020 soll eines dieser Konstrukte für alle Bürger verpflichtend werden.

Es gibt Anreize, sich auf bestimmte Weise zu verhalten

"Sesame Credit", das System des IT-Konzerns Alibaba, ist eines der beeindruckendsten. Es greift zum einen auf Daten zu, die der Konzern über seine Kunden sammelt, etwa Zahlungsdaten aus seinem Bezahldienst Alipay. Wer seine Rechnungen bezahlt, wird positiv bewertet. Andererseits greift das System auf persönliche Daten zu, die beim Staat liegen: im Schuldenregister, bei Gerichten, und im sogenannten Dang'an-System. Darin werden persönliche Daten über die meisten Bürger gespeichert, von körperlichen Merkmalen bis zu Vereinsmitgliedschaften und politischen Aktivitäten. Ein lange erprobtes Machtinstrument des Staates, das nun mit neuen Daten aus sozialen Netzwerken und Big-Data-Technik kurzgeschlossen wird. Auch Chinas größtes Datingportal Baihe ist in das System eingebunden.

Kühnreich warnt vor den Missbrauchsmöglichkeiten: "Menschen und Unternehmen bekommen noch mehr Macht, Ihr Leben zu zerstören." Die Macher der Systeme setzten auf "Gamifizierung": Für die Bürger solle es wie ein Spiel sein, erklärt Kühnreich. Die Macher orientierten sich an den Anreizsystemen in Computerspielen.

Deswegen passten Vergleiche zu George Orwells Dystopie auch nicht: " In '1984' ging es um Zwang. Hier geht es darum, sich kuschelig zu fühlen." Das Systeme setze immer wieder Anreize, sich auf gewisse Weise zu verhalten. Gute Laune dürfte die ständige Bewertung nicht immer auslösen, sagt Kühnreich im Gespräch nach ihrem Vortrag: "Wenn ich nicht genau weiß, welches Verhalten welche Bewertung auslöst, verunsichert mich das und ich verhalte mich vielleicht vorsichtiger als vorher."

Der soziale Druck kommt also nicht von oben, sondern von allen Seiten. Verstärkt wird er dadurch, dass auch die Bewertung von Freunden mit einberechnet wird. Jeder hat also nicht nur ein Interesse am eigenen Punktestand, sondern auch an dem seines Umfelds. Chinesische Politiker rechtfertigen den Einsatz der SCS damit, das Vertrauen zwischen Bürgern wieder herzustellen und ihnen den Zugang zu Krediten zu erleichtern.

Einen Unterschied zwischen China und anderen Gesellschaften gibt es allerdings, auch wenn Kühnreich ihn kleinredet: Behörden und Unternehmen wollen zwar gleichermaßen Daten über die Bürger erfassen. Im Westen halten die Konzerne doch etwas mehr Distanz zur Regierung, wehren sich öffentlichkeitswirksam gegen viele Übergriffe des Staates. So wie Apple, als das FBI eines seiner iPhones knacken wollte. Die Unternehmen vermerken penibel jede Anfrage jedes Staates in ihren Transparenzberichten.

In China nimmt die Verschmelzung von staatlicher Erfassung und kommerziellem Tracking dagegen extreme Formen an. In dieser Woche wurde bekannt, dass in der Metropole Guangzhou Bürger bald ihren Personalausweis mit der Chat-App Wechat koppeln können, die Alibabas Konkurrenten Tencent gehört. Der Financial Times zufolge können sich Nutzer dann per Gesichtserkennung verifizieren, zum Beispiel wenn sie ein Gewerbe anmelden. Das System soll bald landesweit angeboten werden.

In China finden die SCS perfekte Bedingungen vor, die Staat und Gesellschaft in den vergangenen Jahren geschaffen haben. Die Regierung kontrolliert das Internet mit weltweit einmaligen Zensurmechanismen. Für viele Onlinedienste gilt Klarnamenpflicht, keiner kann sich also unter Pseudonym anmelden. Diese Pflicht gibt es formell zwar zum Beispiel auch für deutsche Nutzer auf Facebook, aber das Unternehmen prüft nicht rigoros. In China hingegen müssen Nutzer tatsächlich oft ihre offizielle Ausweisnummer angeben, um Dienste nutzen zu können.

Zudem sind viele Bürger besonders offen für digitale Technik. Beides zusammen führt dazu, dass im Alltag immer mehr digitale Zahlmethoden eingesetzt werden. "Cash verschwindet aus China", sagt Kühnreich. Die Daten aus immer mehr Käufen fließen also direkt in die Systeme ein. Das Fazit der Wissenschaftlerin: Die Welt stehe erst am Anfang einer gravierenden Entwicklung: "China hat angekündigt, von 2020 an international führend bei SCS zu werden." Dann wird das Land wohl beginnen, das System zu exportieren.

Zum Schluss gibt Kühnreich deshalb einen Tipp, der noch wertvoll werden könnte: "Nicht die Systeme nutzen, nur weil man denkt, man kriegt irgendwann einen Mixer umsonst."

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