Wenn Tech-Gurus das "Camera First"-Zeitalter ausrufen und postulieren, die Kamera sei die neue Tastatur, also die eigentliche Brücke zwischen Mensch und Maschine, ist das nicht nur eine technische Voraussage, sondern auch eine Bedrohung. Die Wagniskapitalfirma LDV Capital prognostiziert in einer Studie, dass bis zum Jahr 2022 45 Milliarden Kameras im Einsatz sein werden. Dabei sind Überwachungskameras schon jetzt allgegenwärtig.
In Großbritannien, wo schätzungsweise sechs Millionen Überwachungskameras installiert sind, wird jeder Bürger im Durchschnitt siebzig Mal am Tag gefilmt. Die Analysefirma IHS Markit schätzt, dass in China im öffentlichen und privaten Raum 176 Millionen Überwachungskameras in Betrieb sind, bis 2020 sollen es 450 Millionen sein. Dann kommt auf jeden dritten Bürger eine Kamera. Zum Vergleich: In den USA, flächenmäßig etwas größer als die Volksrepublik, gibt es nur rund 50 Millionen Überwachungskameras.
Man entkommt der Überwachung nicht
Nicht nur der Staat, auch Konzerne wollen in unseren Gesichtern lesen. Supermärkte erproben bereits Gesichtserkennungssysteme, die aus Gesichtern einen emotionalen Zustand ableiten und registrieren, wie lange man vor einem Regal steht. Apple hat in seinem neuen iPhone eine Gesichtserkennung präsentiert, mit der sich das Gerät entsperren lässt. Facebook, dessen Neusprech erst in der deutschen Übersetzung "Gesichtsbuch" deutlich wird, vermisst mit maschinell lernenden Algorithmen die biometrischen Merkmale von Gesichtern auf hochgeladenen Fotos (ironischerweise klebt Gründer Zuckerberg die Webcam seines Laptops ab). Und der Kreditkartenanbieter Mastercard hat ein biometrisches Bezahlverfahren eingeführt, bei dem der Kunde beim Online-Kauf bequem per Fingerabdruck oder Selfie bezahlen kann. Im Überwachungskapitalismus wird das Gesicht zum Barcode.
Nicht einmal die Maskierung hilft da noch. Britische und indische Forscher haben kürzlich eine Methode vorgestellt, die vermummte Gesichter erkennen soll.
Der Science-Fiction-Autor David Brin prophezeite in seinem 1998 erschienenen Sachbuch "The Transparent Society", dass der Siegeszug der Kameras unaufhaltsam sei und die Geräte immer kleiner und billiger würden. Brins These ist, dass angesichts der ubiquitären Kameratechnologie die Privatsphäre nicht mehr zu verteidigen sei. Es gehe vielmehr darum, wie wir in dieser Welt der Überwachung leben. Die zentrale Frage sei: Wer schaut wen an?
Brin verfolgt einen Sousveillance-Ansatz, eine Überwachung von unten, die den Spieß umdreht: Überwachung sei legitim, solange die Überwacher auch überwacht werden. Live-Kameras könnten in Polizeiautos und Polizeirevieren installiert werden. Wenn jeder jeden überwacht, so Brin, sei die Gefahr des Machtmissbrauchs geringer. Die Body-Cams, die Polizeibeamte in einigen Bundesländern und auch in den USA seit einiger Zeit am Körper tragen, stellen eine solche Sousveillance-Maßnahme dar, wenngleich sie offiziell einen anderen Zweck verfolgen, nämlich den der Eigensicherung.
Smartphones sind Kontroll- und Überwachungswerkzeug in einem
"Der einzige Weg, mit dem man Restriktionen erzwingen könnte", schreibt Brin auf seinem Blog, "ist, wenn Bürger und ihre NGOs extensive Gegenüberwachungsmacht haben. Nur dann wissen wir, was sie tun, gut genug zu sagen: Hör auf zu schauen!" Als im Juli 2016 der Afroamerikaner Philando Castile wegen eines defekten Rücklichts in eine Verkehrskontrolle geriet und durch die Schüsse eines Polizisten starb, filmte seine Beifahrerin mit ihrer Handykamera - und streamte alles live auf Facebook. Es ist ein paradigmatischer Anwendungsfall der Gegenüberwachung. Das Problem ist, dass Smartphones sogenannten Dual-Use-Charakter haben: Sie sind Kontroll- und Überwachungswerkzeug in einem.
Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Als Apple in seiner iPhone-Reihe unter dem Jubel der Tech-Blogs eine Frontkamera integrierte, war das nicht nur ein nettes Feature für die sendungsbewusste Generation Selfie, sondern vermittelte auch Botschaft: Wir beobachten dich! Die Äußerlichkeit von Überwachung kehrt sich nach innen. Allein, wer bewacht die Wächter?
David Brin will die Überwachungstechnik entmachten, indem er die Dialektik des Zeigens und Verbergens in der Synthese der Transparenz auflöst. Seine Analogie ist die des Restaurants, in dem Menschen öffentlich Intimes austauschen, ohne einander in Verlegenheit zu bringen. Er stellt die ketzerische Frage, ob sich die Privatsphäre vielleicht doch retten ließe, wenn man alles und alle beobachten kann. Ließe sich auf diese Weise eine gesellschaftliche Norm durchsetzen, sich nicht gegenseitig ins Schlafzimmer zu spähen, auch wenn das mit technischen Mitteln möglich wäre? Ist der Schleier der Privatheit gelüftet, so die gedankliche Konstruktion, handeln wir ehrlicher. Weil ich die Geheimnisse des Nachbarn kenne, kann dieser nicht meine Geheimnisse gegen mich verwenden - das reziproke Wissen wird zu einer Art informationellem Faustpfand. Wo alles offen ist, ist jeder gleich - in seiner Verwundbarkeit.