Social Media:So fordert Snapchat Facebook heraus

Snapchat Headquarters

"Bei Snapchat sind die Leute megacool und gut drauf": Fans im Jahr 2013 vor der damaligen Firmenzentrale mit dem Geisterlogo am Venice Beach in Los Angeles, Ocean Front Walk, Ecke Sunset Avenue.

(Foto: Patrick Fallon/Bloomberg)

Die App, die Nachrichten wieder verschwinden lässt, begeistert viele. Ebenso flüchtig könnte ihr Erfolg sein.

Von Hakan Tanriverdi und Sara Weber

Das derzeit spannendste soziale Netzwerk will vor allem eines sein: kein soziales Netzwerk. Während Nutzer auf Facebook Likes sammeln, auf Instagram und Twitter Herzen, hat Snapchat keine vergleichbare Funktion. Der Nachrichten-App fehlt das narzisstische Herz von Social Media: Sehen und Gesehen werden. Das Prinzip, das die sozialen Netzwerke bisher geprägt hat, wird von Snapchat weitgehend ignoriert. Zu beobachten, wer mit wem interagiert, ist nicht möglich.

Und dennoch ist Snapchat erfolgreich. Werber und Investoren beobachten die App genau. Wenn es einen ernsthaften Konkurrenten für Facebook, Youtube und Instagram gibt, so glauben sie, dann Snapchat. 100 Millionen Menschen nutzen die App täglich, vor allem in den USA.

Im Mai wurden Videos auf Snapchat Berichten zufolge zwei Milliarden Mal am Tag gesehen. Bis November hat sich diese Zahl verdreifacht. Sechs Milliarden sogenannter Views - eine Dimension, in die sonst nur Facebook vordringt. Snapchats Bewertung im Frühjahr: 16 Milliarden Dollar. Klingt, als sei es richtig gewesen, dass die Macher 2013 Facebooks Angebot ablehnten, Snapchat für drei Milliarden Dollar zu kaufen. Nur wer genau hinsieht, merkt, dass die neue Bewertung zu hoch sein könnte.

Gerade das Flüchtige begeistert viele. Nichts ist hier für die Ewigkeit

Snapchat ist Social Media in gasförmigem Zustand: extrem flüchtig. Nutzer können Texte, Fotos und Videos per privater Nachricht an andere Nutzer schicken. Für jedes Foto und Video muss eingestellt werden, wie lange der Empfänger es sehen kann, maximal zehn Sekunden. Ist die Nachricht gesehen worden, verschwindet sie. Das brachte Snapchat vor Jahren den Ruf einer Nacktfoto-App ein. Doch aus dem Nischennetzwerk für Jugendliche, die zum Horror ihrer Eltern anzügliche Bilder verschicken, hat sich eine der wichtigsten Apps entwickelt. Nutzer verschicken nicht nur einzelne Fotos und Videos, sie erstellen auch sogenannte Storys, reihen einzelne Bilder und Videos zu einer Geschichte aneinander. Halbwertszeit: 24 Stunden, dann verschwinden auch sie.

Youtube-Stars auf Snapchat

Bibi, Nico aka Inscope und Dagi Bee lassen ihre Fans an ihrem Alltag teilhaben.

(Foto: Snapchat/bibis.beauty, dagibeee, inscopenico)

In Deutschland haben vor allem berühmte Youtuber Snapchat für sich entdeckt. Auf Googles Videonetzwerk erreichen sie Millionen, mit ihrer Popularität bringen sie viele Nutzer auch zu Snapchat. Bianca Heinicke, dank ihrer Kosmetiktipps als "Bibi" eine der erfolgreichsten Youtuberinnen, sagt der Süddeutschen Zeitung: Mit etwa zehn sogenannten Snaps - also Fotos oder Videos - am Tag erreiche sie 500 000 Nutzer.

Youtube-Stars auf Snapchat

Beauty-Youtuberin Bibi heißt auf Snapchat bibis.beauty und erreicht mit ihren Snaps 500 000 Nutzer pro Tag.

Ihr Freund, der Comedy-Youtuber Julian erreicht als juliencotv auf Snapchat etwa 270 000 Fans.

Liont, der ebenfalls mit Comedy-Videos auf Youtube bekannt wurde, heißt auf Snapchat therealliont und erreicht etwa 150 000 bis 200 000 Nutzer pro Snap.

Nico aka Inscope21, der ebenfalls klamaukige Youtube-Videos dreht, ist auf Snapchat als inscopenico unterwegs. Er erreicht im Schnitt rund 80 000 Nutzer.

Die Zwillingsbrüder Heiko und Roman Lochmann, die auf Youtube als DieLochis Comedy und Musik machen, erreichen auf Snapchat als heikolochmann und roman_lochmann jeweils etwa 50 000 Zuschauer.

Snaps sind kurz, lustig und gleich wieder weg

Was macht Snapchat so attraktiv für die jungen Kreativen? Nico, der seinen Nachnamen verschweigt, damit Fans nicht bei ihm klingeln, sagt: "Auf Facebook und Youtube gibt es so einen Profilierungszwang. Auf Snapchat kann man auch mal sagen: Das ist mir passiert, das war peinlich." Mit seinen Comedy-Videos erreicht er auf Youtube mehr als eine Million Abonnenten. Auf Snapchat ist er seit kurzem unter dem Namen "Inscopenico" aktiv, seine Snaps sehen im Schnitt bis zu 80 000 Nutzer. So ein Snap sei kurz, lustig und gleich wieder weg, sagt Nico.

Im Gegensatz zu Facebook oder Instagram geht es nicht darum, eine perfekte Online-Persönlichkeit zu schaffen. Es gehe ums Jetzt und Hier, um kleine Alltagsschnipsel: ein schnelles Selfie, ein Foto aus der U-Bahn, ein Video von der Party. Nico findet es "cool, dass Snapchat im Gegensatz zu anderen Netzwerken keine Bewertungs- und Kommentarfunktion hat". Auf Facebook und Youtube gebe es Trolle, die nur Aufmerksamkeit wollten. Bei Snapchat dagegen seien die Leute "megacool und gut drauf".

Megacool - und weit entfernt von profitabel

Medien bei Snapchat Discover

CNN, Buzzfeed und Vox.com machen Nachrichten in der App

(Foto: Snapchat/CNN, Buzzfeed, Vox.com)

Der Großteil dieser megacoolen Leute ist zwischen 13 und 34 Jahre alt. Das sollte die App attraktiv für Vermarkter und Werbekunden machen. Doch es gibt auch Skeptiker. Die App ist allgegenwärtig, profitabel ist sie internen Dokumenten zufolge aber noch lange nicht. In den vergangenen Monaten haben mehrere Topmanager das Unternehmen verlassen. Die 16-Milliarden-Dollar-Bewertung wackelt.

Fidelity Investments etwa hat seine Anteile um 25 Prozent abgewertet. Manche Analysten und Investoren befürchten, dass Snapchat die Erwartungen der Werbekunden auf Dauer nicht erfüllen kann. Das Unternehmen lässt es kaum zu, Anzeigen auf ein bestimmtes Publikum zuzuschneiden. Snapchat-Chef Evan Spiegel sagt selbst, dass er die meiste Online-Werbung ablehne. Ein Produkt zu kaufen und später zielgenau Werbung für dieses Produkt angezeigt zu bekommen, finde er "gruselig".

Ein Club für Eingeweihte, der die Nutzer schnell frustrieren kann

Dass das soziale Netzwerk, das auf anderen Plattformen im Vordergrund steht, auf Snapchat unsichtbar ist, bedeutet auch: Nutzer können nicht nach anderen Nutzern suchen. Snapchat ist ein Club für Eingeweihte. Das macht Vermarkter nervös. "Das Hauptproblem ist, Leute zu finden", sagt Philipp Steuer, Social Media Marketer und auf Youtube und Snapchat aktiv. Nur wer den genauen Nutzernamen eines Freundes oder Prominenten kennt, kann ihm folgen. Es ist deutlich schwerer, ein persönliches Netzwerk aufzubauen als auf Facebook oder Whatsapp. Das gilt vor allem, wenn nicht der ganze Bekanntenkreis Snapchat nutzt. "Alle, die nicht 14 oder 15 Jahre alt sind, sind schnell frustriert, weil sie nicht wissen, wem sie folgen sollen", sagt Steuer. "Es fehlen thematische Empfehlungen, um erwachsene Konsumenten zu kriegen." Ein Problem, das auch Twitters Investoren seit Jahren frustriert.

Intransparent ist Snapchat auch in anderen Bereichen: Wie gut Werbung dort genau wirkt, ist unklar. Gleiches gilt auch für die Zahl der sechs Milliarden gesehenen Videos. Ab wie vielen Sekunden ein Video als "gesehen" gilt? Unbekannt. Wie viele Nutzer es in jedem Land gibt? Geheim. Auf Anfrage der SZ wollte sich das Unternehmen nicht äußern.

Snapchat-Chef Spiegel findet manche Werbung gruselig. Das irritiert Investoren

Snapchat sucht also nach zusätzlichen Geldquellen. Wer 99 Cent bezahlt, kann in den USA drei Snaps noch einmal abspielen, den digitalen Moment also zumindest ein bisschen festhalten. Für denselben Preis können Nutzer zusätzliche "Lenses" kaufen: Filter, um Gesichter in Videos zu verändern - eine beliebte Snapchat-Funktion. Wer ein Selfie-Video aufnimmt, kann per Filter seine Augen blau leuchten oder einen Regenbogen aus dem offenen Mund schießen lassen. Was albern klingt, soll Werbekunden anziehen: Sie können gesponserte Lenses anbieten, wie Fox Studios zum Start des neuen "Peanuts"-Films an Halloween: Snoopy und Woodstock tanzen im Selfie herum, Kürbisse hüpfen durchs Bild. Solche Filter kosten Unternehmen Berichten zufolge 500 000 Dollar pro Wochentag. Manche werden von Millionen Nutzern verwendet.

Unternehmen können auch Anzeigen in Kanälen buchen oder gleich einen eigenen Kanal kaufen, wie Sony Pictures für den James-Bond-Film "Spectre". Nutzer konnten hinter die Kulissen des Drehs blicken und Videos mit den Hauptdarstellern sehen.

Medien wie CNN oder Buzzfeed haben begonnen, ihre Inhalte über Snapchat zu verbreiten. Signifikante Teile ihrer Online-Leserzahlen gehen seither auf die App zurück. In Deutschland experimentiert unter anderem Bild mit Snapchat.

Snapchat bietet einen Kommunikationsraum im Internet, in dem Banalitäten im Vordergrund stehen und Provokateure kein Publikum finden. Nutzer sehen "Snappen" ähnlich wie ein Treffen mit Freunden, haben Forscher der University of Michigan herausgefunden. Es geht um Alltägliches, der Austausch ist spontan und wird nicht aufgezeichnet. Snapchat macht der Untersuchung zufolge auch glücklicher als alle anderen sozialen Netzwerke. Ob es seine Investoren glücklich machen wird, ist eine andere Geschichte.

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