Kapitalismuskritik von Morozov:Die funktionalen Idioten des Silicon Valley

Kapitalismuskritik von Morozov: Im Film "Gattaca" mit Jude Law aus dem Jahr 1997 war das Erkennen von Krankheiten im Erbgut noch Science-Fiction.

Im Film "Gattaca" mit Jude Law aus dem Jahr 1997 war das Erkennen von Krankheiten im Erbgut noch Science-Fiction.

(Foto: imago)

Die Techfirmen des Silicon Valley ebnen dem Kapitalismus den Weg. Inzwischen dringt er in Bereiche vor, die lange geschützt waren. Zum Beispiel in die Medizin.

Von Evgeny Morozov

Die Wahrscheinlichkeit, dass man künftig noch eine medizinische Grundversorgung erhält, ohne mit einem Technikunternehmen zu tun haben zu müssen, wurde nach zwei jüngsten Bekanntmachungen gerade beträchtlich kleiner. In der ersten ging es um die Partnerschaft zwischen Alphabet, dem Mutterunternehmen von Google, und dem Pharmariesen GlaxoSmithKline (GSK). Die beiden haben sich darauf geeinigt, 715 Millionen Dollar in eine Firma zu investieren, die sich auf Bioelektronik spezialisiert. Sie soll elektronische Miniaturimplantate entwickeln, mit denen chronische Krankheiten behandelt werden sollen.

In der zweiten Bekanntmachung ging es um die Ergebnisse einer Studie zu den genetischen Ursachen von Depressionen - sie erwuchs aus einer Zusammenarbeit zwischen 23andMe, einem von Google unterstützten Unternehmen, das private Genanalysen anbietet, und Pfizer, einem weiteren Pharmariesen. Die Studie konnte auf die DNA-Daten der 450 000 Kunden von 23andMe zurückgreifen und war die größte ihrer Art.

Beide Kooperationen basieren auf einer scheinbar plausiblen Annahme: Technikunternehmen besitzen zwar wertvolle Daten über uns, aber wenig Wissen über unsere Gesundheit - und sie besitzen kaum Glaubwürdigkeit, weder in der Öffentlichkeit noch in der Medizinbranche.

Die Verschwendung dieser Daten geschah eher aus Verzweiflung, denn aus Strategie

Die Verbindung von Alt und Neu in der Pharmaindustrie könnte ein Zeichen dafür sein, was auch an anderen Fronten droht. Das Silicon Valley hat sich in der Öffentlichkeit mit der Behauptung positioniert, einen Frontalangriff führen zu wollen auf den alten Kapitalismus, der von selbstgefälligen Dinosaurier-Firmen dominiert wird. Derlei Firmen sollten verschwinden, um schlankere Formen des Kapitalismus zu ermöglichen, denen es um den Dienst am Kunden geht - dessen persönliche Daten sollten die Währung hierfür sein.

Doch nur wenige haben einen Weg gefunden, etwas mit diesen Daten anzufangen, zumal Google und Facebook den Werbemarkt, diesen ultimativen Datenfriedhof, untereinander aufgeteilt haben. So wurde bald klar, dass die Verschwendung all dieser Daten in der Werbebranche eher aus Verzweiflung denn aus Strategie passiert. Die Fixierung auf Werbung sagt viel über die Unfähigkeit der Technikunternehmen aus, etwa auf dem Energie-, Lebensmittel-, Landwirtschafts- oder Versicherungsmarkt zu reüssieren. Diese Märkte sind viel komplizierter als Werbung und sie verlangen ein höheres Startkapital.

Rückblickend wird klar, dass nun Player wie GSK und Pfizer in der besten Ausgangsposition sind, Nutzen aus diesen Daten zu ziehen. Deshalb ist die Rede von der Beseitigung des alten Kapitalismus nicht mehr gültig - eine Wahrheit, die gerade mit der Kapitulation von Yahoo vor Verizon wie eine Bombe einschlug. Der einstige Liebling der digitalen Revolution musste sich einem alteingesessenen Unternehmen beugen, das sogar gerne mit genau diesem alten, uneffektiven Kapitalismus in Verbindung gebracht wird. Diesen sollte doch das Silicon Valley sprengen. Obendrein gehört AOL jetzt auch zu Verizon - ein anderer erloschener Stern der Internetbranche.

Der Aufbau des Revolutionspotenzials von digitaler Technologie dauerte Jahrzehnte. Heute verändert die Technik die Lage im Jahrestakt. Man muss sich nur die Technologie dezentraler Datenbanken ansehen, die als Vorbote von Dezentralisierung und der Entstehung einer Welt angepriesen wird, in der große, zentralisierte Institutionen - seien es Staaten oder Banken - nicht länger allen anderen die Bedingungen diktieren können. Heute kann man keine Technik-Zeitschriften lesen, ohne über Berichte darüber zu stolpern, dass weitere große und zentral gesteuerte Firmen - von IBM bis hin zur Bank of America - eine Einheit für dezentralisierte Datenbanken implementieren.

Viele Beobachter der Technikbranche machten vor zehn Jahren den Fehler zu glauben, dass die Firmen im Silicon Valley jede andere Branche genauso leicht sprengen würden, wie sie den Musik-, Werbe- und Nachrichtenmarkt gesprengt hatten. Es kam anders: Der Einstieg in streng reglementierte Branchen wie das Gesundheits-, Finanz- oder Energiewesen war für diese Firmen schwierig, da sie für ihre Arroganz und mangelnde Branchenkenntnis bekannt waren.

Den Kapitalismus stärken

Mit ihrer Standardstrategie des moving fast and breaking things - sich also schnell zu bewegen und Dinge kaputt zu machen, wie Mark Zuckerberg es einmal anschaulich formulierte, werden sie in der Werbung nichts Schlimmes anrichten. In anderen Bereichen könnte eine solche Strategie jedoch tödlich sein. Der spektakuläre Niedergang von Theranos, einem der Top-Start-ups im Medizinsektor, das einst auf neun Milliarden Dollar geschätzt wurde, zeigt, dass die Verheißung von Neuerungen nicht notwendigerweise zu tatsächlichen Neuerungen führt.

Das Transportwesen ist möglicherweise ein Bereich, in dem sich die Technikbranche noch behaupten könnte - hauptsächlich, weil sie nun festgestellt hat, dass die Datenschätze, die sie besitzt, für die Entwicklung von autonomen Fahrzeugen genutzt werden können. Auch hier schließen die Technikunternehmen Allianzen mit etablierten Größen. Sogar Google, das hier führend ist, hat sich mit Fiat Chrysler zusammengetan, um selbstfahrende Minivans zu entwickeln.

Größen der Automobilindustrie investieren momentan enorm in künstliche Intelligenz. Ein Beispiel ist die Ankündigung von Toyota, in den nächsten fünf Jahren eine Milliarde Dollar in selbstfahrende Autos zu investieren. Die deutschen Autohersteller haben ein paar Jahre hinter dem Lenkrad verschlafen, aber nun die Wichtigkeit von Daten und Zusammenschlüssen erkannt - und die Überreste des Landkartenzweigs von Nokia gekauft.

So oft wie das Silicon Valley trotz gegenteiliger Versprechungen daran gescheitert ist, eine Branche zu sprengen, ist es ziemlich verwunderlich, warum es immer noch die Aura der Revolution für sich reklamiert. Die Nest Labs von Google mögen zwar als Revolution im Bereich des "Smart Living" angekündigt worden sein, aber schickes Design und eine datenintensive Ausstattung konnten die Verbraucher bislang nicht überzeugen.

Technikfirmen als Einfallstore

Wenn jedoch das Narrativ von der Sprengung des alten Kapitalismus nicht mehr haltbar ist, werden die Firmen im Silicon Valley sich mit einer unangenehmen Wahrheit konfrontiert sehen: Anstatt eine neue Form des Kapitalismus zu schaffen, die keine riesigen, verschwenderischen und hierarchisch strukturierten Firmen mehr kennt, könnten gerade sie es am Ende sein, die jenen alten Kapitalismus, den sie angeblich so verachten, widerstandsfähiger, dynamischer und - welche Ironie! - unzerstörbar zu machen.

Technikfirmen sind die Einfallstore, durch die der alte Kapitalismus zu jenen Bereichen unseres Lebens vordringen kann, die bisher aus ethischen und politischen Gründen tabu waren. Wir mögen uns davor scheuen, Sensoren von Pfizer oder GSK zu schlucken, aber wenn wir sie von Google kostenlos bekommen - warum nicht? Indem der Kapitalismus zur Informationstechnologie wird, vermag er sich zu entpolitisieren, da er jede Opposition gegen sich als Widerstand gegen Wissenschaft und Technologie darstellt.

Im besten Falle sind Technikunternehmer nur rationale Zyniker, die Geld verdienen wollen, egal, wie es dem Rest der Welt geht. Im schlimmsten Falle sind sie jedoch funktionale Idioten, die wirklich davon überzeugt sind, dass sie fest verwurzelte Machtstrukturen unterlaufen und dem Einzelnen mehr Macht geben. Das mag ein erhebender Glaube sein, an den man sich klammern kann - doch genau diese Machtstrukturen haben leider andere Pläne.

Evgeny Morozov gilt als einer der schärfsten Kritiker des Silicon Valley. Sein Buch "The Net Delusion" war ein internationaler Bestseller. Derzeit forscht er an der Harvard University. Aus dem Englischen von Sofia Glasl.

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