Süddeutsche Zeitung

Schauspiel Köln:Digital sind wir alle nackt

"Supernerds" am Schauspiel Köln malt den Teufel geheimdienstlicher Datensammelwut multimedial an die Wand. Ein gelungenes Experiment - und ein Plädoyer für bewussteren Umgang mit Privatsphäre.

Von Till Briegleb

Digital betrachtet sind wir alle nackt. Wer das nicht aus den Medien lernen will, dem bringen es die Kinder bei. Jugendliche im Smartphone-Alter kleben bereits die Kameras ihrer Geräte ab, damit die Geheimdienste sie nicht bis aufs Klo verfolgen. Aber natürlich surfen auch sie hemmungslos durch den Glasfaserkosmos und hinterlassen überall ihre Daten und Kennungen - die komischerweise "Cookies" heißen, vielleicht, weil ein hungriges Krümelmonster sie fressen soll.

Was in den letzten Jahren durch Whistleblower, Hacker und Enthüllungsjournalisten über die digitale Gefräßigkeit geheimer Regierungsabteilungen und Konzerne aufgedeckt wurde, wird gar nicht mehr dementiert. Nichts scheint heute leichter zu sein, als aus unserer Benutzung vernetzter Taschencomputer eine nackte Persönlichkeit zu erstellen. Gilt demnach der Vorwurf politischer Selbstversklavung, den William Edward Binney mit Goethe so formuliert: "Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein."

Auch Julian Assange und Edward Snowden tauchen auf

Binney ist ein NSA-Aussteiger und einer der Kronzeugen von Angela Richters Projekt "Supernerds". Seit Jahren reist die Theaterregisseurin durch die Welt und trifft die verfolgten Experten von Überwachung und Geheimhaltung, die an die Öffentlichkeit gegangen sind und seither die Macht staatlicher Verfolgung spüren. Die prominenten Asylanten wie Julian Assange und Edward Snowden hat Richter ebenso zum Zustand unserer Demokratie befragt wie aktuelle und ehemalige Gefängnisinsassen, etwa den Anonymous-Hacker Jeremy Hammond oder Daniel Ellsberg, der in der Nixon-Ära mit der Veröffentlichung der "Pentagon Papers" über die Entfachung des Vietnam-Kriegs zum Propheten des guten Verrats wurde.

Angela Richter verfolgte schon lange die Absicht, aus diesem Material einen besonderen Theaterabend zu bauen und eine erschrockene Öffentlichkeit zu erzeugen, die wenigstens kurz aus ihrer Bildschirm-Hypnose erwacht. Weil so etwas mit einem gewöhnlichen Performanceabend an einem deutschen Stadttheater natürlich nicht gelingt, hat sie für ihre Produktion am Schauspiel Köln, die Donnerstag Premiere hatte, mächtige Partner gesucht und gefunden.

Parallel zur Inszenierung produzierte der WDR im Theater live einen Themenabend zur digitalen Ausspähung, der sich immer wieder in das Bühnengeschehen einschaltete, und die Produktionsfirma "Gebrüder Beetz" erarbeitete ein interaktives Internet-Format (das angeblich viele Twitter-Einträge erzeugte). Zur weiteren Verstärkung gab Angela Richter zudem Interviews, in denen sie andeutete, mit den Zuschauern und ihren Mobiltelefonen Dinge am Rande der Legalität zu tun.

"Wir tun heute Dinge am Rande der Legalität."

Der Erwartungsschauer, die diese Ankündigung auslöste, war am Donnerstag überall zu spüren. Würden die IT-Experten der Produktion tatsächlich die Pornoseitenbesuche der Gäste verraten, ihre Kontostände veröffentlichen oder zeigen, wo man sich kürzlich aufgehalten hat?

Ja, sie würden, lautete die Antwort, aber nur im Spaß. Wie in einer echten Know-How-Show zeigten die "Supernerds" dem Saalpublikum durch das Klingeln ihrer Handys an, wer links des Rheins wohnt und wer rechtsrheinisch, wer nach den Recherche von Schufa-Daten Probleme bei der Kreditvergabe bekäme und wer sich in letzter Zeit auf einer Pornoseite "Französisch mit Krabbensalat auf dem Kopf" angesehen habe - worauf eigentlich das Handy des Showmasters (Yuri Englert) klingeln sollte, das aber schwieg.

Tatsächlich war das alles weit weniger schockierend als unterhaltsam und fand seine Krönung in einem Hologramm von Julian Assange, mit dem zunächst das Buch-Interview nachgespielt wurde, das dann sein Handy zückte und wählte, worauf bei vielen Menschen im Saal eine englische Rufnummer klingelte. Wer Kontakt zu einer verdächtigen Person hat, der ist nach der Logik der NSA-Algorithmen selber verdächtig, erklärte die WDR-Moderatorin Bettina Böttinger.

Der zweieinhalbstündige Abend in einem riesigen Puppenkabinett voller hybrider Gestalten in Zwerg- und Riesenform (von Katrin Brack) bestand auch, aber nicht nur aus der Ironisierung berechtigter Ängste. Dazu sind die Aussagen der überwiegend amerikanischen Gewissenstäter, die in "Supernerds - Gespräche mit Helden" (Alexander Verlag) nachzulesen sind, von zu großem Ernst. Die gesetz- und schrankenlose Sammelwut von Geheimdiensten wird von den neun prominenten Whistleblowern, die Richter vorstellt, nicht nur beschrieben, sondern auch in ihren Motiven, Gefahren, sowie ihrer Kontraproduktivität analysiert.

Gekleidet in unauffällige Jeansmode, die größtmögliches Untertauchen in der Masse suggeriert, wie an amerikanische Sträflingskleidung erinnert (Kostüme: Wiebke Schlüter), trägt das Ensemble die Erkenntnisse in knappen Spielszenen vor. Nikolaus Benda als barfüßiger Edward Snowden beschreibt, wie jeder Fortschritt zum Stillstand kommt, wenn ein System versucht, Abweichungen im vorhinein zu verhindern - worauf die totale Datenkontrolle abzielt. Judith Rosmair zeigt einen psychisch schwer angeschlagenen Whistleblower Bradley Manning, der sich als Frau in einem Männerkörper in der Armee vollkommen fehl am Platze fühlt, aus dieser Fremdheit heraus aber einen scharfen Sinn für die chauvinistischen Verbrechen amerikanischer Kriegsführung entwickelt - und diese verrät.

Überwachungsideologie als quasi-religiöses System

Nachdem auch die Anwältin Jesselyn Radack und einige ihrer Klienten wie die NSA-Renegaten William Binney und Thomas Drake die absurd-gefährliche Welt der Geheimdienste beschrieben haben, gehört der Höhepunkt der Bedrohlichkeit dem ersten Superstar der Szene, Julian Assange. Seine Beschreibung der Überwachungsideologie als quasi-religiöses System führt ihn zu einer optimistischen und einer pessimistische Vision für die Zukunft. Im positiven Fall erleben wir einen Kollaps der Zivilisationen, aus dem etwas Neues entstehen kann. Auf diese tröstliche Antwort folgt dann die "apokalyptische" Wendung: Das System bricht nicht zusammen, und wir erleben "eine postmoderne Version von Nordkorea."

Ob dieses Krümelmonster tatsächlich in naher Zukunft aus unserem Datenkonsum erwächst und die Welt real versklavt, das erscheint trotz des Aufklärungsabends dann doch ein wenig zu dramatisch. Um es sicher zu vermeiden, braucht es aber noch viele integere Whistleblower. Und diesen Mut aufzubringen, war "Supernerds" ein flammendes Plädoyer an uns Digitalnackte. Denn wie sagte Edward Snowden: Bei Missbrauch von Macht ist "Verräter" keine Beleidigung.

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Quelle:
SZ vom 30.05.2015/sih
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