Rollenspiel "Fallout 4":Menschliche Maschinen, mörderische Menschen

Fallout 4

Zurück nach 200 Jahren im Bunker

(Foto: Fallout 4 Screenshot)

Sich mit der Spielfigur zu identifizieren, fällt in der zerstörten "Fallout"-Welt besonders leicht. Der vierte Teil macht immer noch vieles deutlich besser als die meisten anderen Spiele.

Von Markus C. Schulte von Drach

"Sie kommen zwei Jahrhunderte zu spät zum Essen!" Als wäre das, was mein Hausroboter Codsworth da sagt, noch der Rede wert unter all meinen furchtbaren Problemen. Mein Haus ist verwüstet wie der ganze Ort Sanctuary Hills bei Boston, Massachusetts. Verwüstet wie das ganze Land und wie vermutlich die ganze Erde nach dem Atomkrieg mit den Chinesen 2077.

Wir haben davon nur den Anfang mitbekommen, als am Horizont plötzlich die pilzförmige Wolke stand, die das Ende der Welt, wie wir sie kannten, besiegelte. Während der Fahrstuhl in den Atombunker hinabfuhr, fegte schon der atomare Sturm über unsere Köpfe hinweg.

Fallout 4

Blick aus der Kälteschlafkammer

(Foto: Screenshot Fallout4)

Meine Frau liegt in dem Bunker, bei all den anderen Toten dort unten, in den Gängen und in diesen Kühlkammern für die Zivilisten. Irgendwann sind die Geräte bis auf das meiner Frau und meines ausgefallen. Das Bunkerpersonal hat sich offenbar gegenseitig umgebracht.

All das hat allerdings nichts mit dem Tod meiner Frau und dem Schicksal meines Sohnes zu tun. Irgendwann, bevor ich meine Kälteschlafkammer verlassen konnte, hat jemand unser Kind aus der Kammer meiner Frau geholt. Und sie erschossen. Wer entführt ein einjähriges Baby? Das also ist meine Aufgabe, nachdem ich den Bunker verlassen habe: Herauszufinden, wo Shaun ist. Dazu muss ich allerdings überleben. Und das ist alles andere als einfach.

Schon der erste Hinweis auf die Entführer führt durch abgestorbene Wälder zu einer kleinen Stadt, in der ein wildes Feuergefecht stattfindet. Wer kämpft gegen wen? Vorsichtig schleiche ich mich heran, aber auch aus der Nähe bleibt die Lage unübersichtlich. Soll ich mich etwa mit dieser kleinen Pistole, die ich gefunden habe, einmischen? Wenigstens versuchen, einige dieser fiesen Typen feige von hinten zu erschießen, um dem einzelnen Kerl, dem sie an den Kragen wollen, beizustehen? Der Versuch, jemanden nett anzusprechen, ist jedenfalls ein großer Fehler. Und was in diesem Kaff dann auch noch aus der Kanalisation springt, ist ein Realität gewordener Alptraum.

Es leben also noch Menschen auf der Oberfläche, irgendwie. Manche organisieren sich in kleinen Gemeinden. Viele brauchen Hilfe. Gegen Tiere, unter denen sich dank der Radioaktivität monströse Arten gebildet haben. Gegen Menschen, die die Strahlung in Zombies verwandelt hat, die ihren Verstand verloren haben und auf alles losgehen. Gegen Raider, die zwar ihren Verstand noch weitgehend besitzen, ihre Menschlichkeit jedoch aufgegeben haben und in Gruppen töten, plündern und ihre Opfer sogar verzehren.

Mancherorts taucht aber auch gerade dort Hilfe auf, wo man nicht damit rechnet. Es gibt Androiden, die mehr Mitmenschlichkeit zeigen als ihre Konstrukteure ...

Androide Nick Valentine

Manche Androiden zeigen mehr Menschlichkeit als ihre Konstrukteure

(Foto: Screenshot Fallout4)

Kämpfen mit den Bösen, Flirten mit den Guten

Es ist eine riesige Welt, die "Fallout 4" bietet, mit unzähligen Orten, wo neue Aufgaben warten, eingebettet in einen detaillierten Background, der sich über Computerterminals und Dialoge erforschen lässt. Ich höre coole Musik aus den 40er und 50er Jahren, während ich durch das manchmal atemberaubend und grauenhaft schöne postapokalyptische Szenario wandere. Wo etwa die Reste einer riesigen Autobahnbrücke ins Nichts der Abenddämmerung ragen und in den Schatten auf den sanften Hügeln darunter zwischen abgebrannten Baumstämmen irgendwo ein einsames Licht auf die Existenz anderer Menschen deutet. Die einem allerdings möglicherweise doch nur umbringen wollen und so ein weiteres Gemetzel provozieren, an dessen Ende wieder ein Dutzend Leichen herumliegt.

Fallout 4

Warum nicht mit der Begleiterin flirten?

(Foto: Screenshot Fallout4)

Und ich schaue nicht nur zu, ich identifiziere mich nicht nur mit dieser Figur wie mit den Protagonisten in Büchern und Filmen. Ich bin sie. Ich treffe die Auswahl unter meinen möglichen Begleitern, stoße meine Gesprächspartner in unseren Dialogen vor den Kopf, statt um Hilfe zu bitten, oder flirte gar mit ihnen. Ich entdecke nach und nach, welche Kräfte sich im Kampf um die Macht in diesem Teil der Welt gegenüberstehen, und kann mich entschließen, welcher Interessengruppe ich mich anschließe. Ich werde tatsächlich zu einem Teil dieser Geschichte und entwickle meine eigene Persönlichkeit.

Bau Dir ein Zuhause

Und wenn ich will, kann ich Teile dieser Welt auch selbst gestalten: Ich kann meine eigene Siedlung aufbauen, mit Häusern, Läden, Schutzwall. Vielleicht sind die Macher des Spiels auf diese Idee gekommen, weil in der Vergangenheit schon unzählige Spieler Tausende Mods zu Vorgängern von "Fallout 4" ins Netz gestellt haben - darunter solche, die die Zufluchtsstätten im Spiel verschönern sollen oder sogar ganz neue Heime bieten.

Das ist das Potenzial, das Videospiele auszeichnen kann. Sie müssen es nur nutzen. Und natürlich kann auch jedes Spiel nur so gut sein wie die Geschichten, die es erzählt.

Das Spiel hält die wichtigsten Versprechen

In den meisten sogenannten Egoshootern steuert der Spieler martialisch aufgemachte Helden durch hektische Schlachten und Abenteuer und holt sich einen Kick, in dem er sich von einem Ort zum nächsten durchschlägt. Schon die Aufmachung deutet auf pubertierende Jugendliche als Zielgruppe hin, obwohl die meisten Spiele wegen der Gewaltdarstellungen erst ab 18 Jahren freigegeben sind.

Nun kann ein Spiel eine Weile gut davon leben, dass die Welt realistisch wirkt und atmosphärisch dicht programmiert ist. Dann kann ein Spiel wie "Crysis 2" sogar den Deutschen Computerspielpreis erhalten. Aber ohne gute Geschichte ist das doch nur wie eine Achterbahnfahrt: aufregend, aber nicht wirklich interessant.

Seltener sind Spiele, die eine Geschichte mit anspruchsvollem Hintergrund bieten. Ist die Story interessant, ist es so, als würde man in einem Actionfilm mitspielen, selbst in "The Walking Dead" dabei oder mal Batman sein.

Sind den Figuren in Spielen wie "The Last of Us" sogar interessante psychologische Auseinandersetzungen mit der eigenen Rolle in einer postapokalyptischen Welt auf den Leib programmiert, wird die Sache noch interessanter. Gibt es darüber hinaus die Möglichkeit, eine Rolle nicht nur zu übernehmen, sondern ihr Verhalten, ihr Geschlecht, ihre Persönlichkeit mitzubestimmen, wie es in guten Rollenspielen der Fall ist, nähert man sich der Oberliga der Computerspiele. Und wenn es dann - wie etwa in dem Klassiker "Deus Ex - Human Revolution", möglich ist, sich zu entscheiden, für welche fragwürdige Seite man sich in einem komplexen Konflikt über die Kontrolle der Weltpolitik einsetzen möchte, ist es am besten.

Fallout 4

Diamond City - wo das Leben halbwegs wieder seinen geregelten Gang geht. Würden nicht immer wieder Menschen verschwinden.

(Foto: Screenshot Fallout4)

Zu solchen Spielen gehören schon lange auch die von Bethesda, die in der Reihe von "Morrowind" bis "Skyrim" in der typischen Fantasiewelt angesiedelt sind, oder in denen man sich eben auf der durch einen Atomkrieg zerstörten Erde durchschlagen muss.

Hohe Erwartungen nur teilweise erfüllt

"Fallout 4" ist bereits das dritte Rollenspiel in Erster-Person-Perspektive in der Fallout-Reihe. Die extrem erfolgreichen Vorgänger "Fallout 3" und "Fallout New Vegas" sowie ihr Fantasy-Cousin "Skyrim" hatten die Erwartungen von Hunderttausenden von Spielern in extreme Höhen steigen lassen. Der Publisher hatte die Spannung noch angeheizt, indem er fast keine Informationen über das Spiel herausgab, zugleich aber intensiv dafür warb. Das hat nun zu vielen enttäuschten Kommentaren geführt, denn das Spiel bleibt in einigen Punkten hinter den technischen Möglichkeiten zurück, die andere Spiele wie "The Witcher 3" etwa, oder der jüngste "Batman" demonstriert haben.

Das ist ja der Fluch jedes riesigen Erfolgs: Das nächste Ding muss noch besser sein. Aber muss es das wirklich? Wem es genügt, eine weitere Variation des Fallout-Themas zu spielen, wird zwar am PC über eine Reihe ärgerlicher Veränderungen im Gameplay anfänglich heftig stolpern. Den Umgang mit den Werkstätten, in denen der Spieler die Ausrüstung seines virtuellen Alter Ego verbessern kann, und den Siedlungsbau muss man erst mal kapieren. Es vergeht viel Zeit, bis alle Wände so stehen, wie es sich gehört. Zum Glück gibt es inzwischen eine Reihe von Videos etwa auf Youtube, die gute Tipps geben. Auch die Mimik der Figuren lässt zu wünschen übrig - manche Charaktere wirken sogar künstlicher als die in den Vorgängerspielen. Und die Grafik ist nicht so gut, wie man es 2015 erwarten würde.

Aber das Fazit ist eindeutig: Die wichtigsten Versprechen hält das Spiel.

In der deutschen Version spiegelt sich allerdings eine Entwicklung wider, die seit Jahren deutlich zu beobachten ist: Die Darstellung der Gewalt ist brutaler geworden. "Fallout 3" und "New Vegas" wurden für den deutschen Markt geschnitten, um eine Freigabe ab 18 zu gewährleisten. Das war diesmal offenbar nicht notwendig. In "Fallout 4" werden die Folgen der Gewalt jetzt realistischer dargestellt. Der Spieler muss damit rechnen, dass abgerissene Arme und Beine und sogar Augäpfel und Unterkiefer herumliegen. Über die Schrecken in Filmen wie "The Walking Dead" und "Games of Thrones" geht das aber nicht hinaus - außer man verpasst sich im Verlauf des Spiels die sonst unwichtige Eigenschaft "Bloody Mess". Offenbar gibt es Spieler, die darauf stehen.

Wie alle anderen Spiele für Erwachsene sollte "Fallout 4" wegen der Gewalt deshalb nur diesen zugänglich gemacht und - genauso wie es mit anderen Erwachsenenmedien wie etwa Pornos auch passiert - aus dem Wahrnehmungsbereich von Kindern herausgehalten werden.

Fallout 4 (USK ab 18) ist am 10. November für PC, Playstation 4 und Xbox One erschienen.

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