Red Dead Redemption:Spielbare Gemälde

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Die Spielewelt eifert weiter dem Kino nach - und macht damit vieles falsch. Ein neues Spiel zeigt, wie Videospiele zu einer eigenen Kunstform finden könnten.

Michael Moorstedt

Wenn Dan Houser gefragt wird, wovon sein neues Spiel Red Dead Redemption handelt, muss der Chefautor des Entwicklerstudios Rockstar Games ein paar Sekunden nachdenken. "Von Amerika", antwortet er schließlich: "Es geht um die Geburt des modernen Amerika. Darum, was wir gewonnen und was wir verloren haben." Houser und sein Team haben sich an ein Genre gewagt, das die Videospielindustrie bislang nur mit spitzen Fingern anfasste. Den Western. Die Vergänglichkeit schwebt schwer über dem Setting des Spiels, denn angesetzt hat das Rockstar seine Interpretation im Jahr 1911. Die Gesetzlosigkeit ist bereits auf dem Rückzug, der Cowboy ein Auslaufmodell. John Marston, der Held, ist eines dieser Relikte, ein ehemaliger Revolverheld, der noch einmal raus muss. Gegen sein alte Gang und für seine junge Familie.

Einsamer Cowboy im Abendrot: Mit "Red Dead Redemption" hält die Westernromantik Einzug die Welt der Videospiele. (Foto: N/A)

Vor knapp zwei Monaten ist das Spiel erschienen, und nachdem sie alle Rätsel gelöst und alle Fragen für beantwortet erklärt hatten, benutzten die Fans diese kaum noch verpixelte Welt mittlerweile als Kulisse für ihre eigenen Inszenierungen. Die aus dem Spiel heraus gefilmten Szenen zeigen nicht, wie sonst üblich, die spektakulärsten Explosionen und blutrünstigsten Duelle - vielmehr liefern sich Tausende von Spielern auf Youtube einen Wettlauf um den sentimentalsten Moment. Sie reiten während einer Vollmondnacht über die Grenze nach Mexiko oder stehen einsam auf einer Klippe, einer der raren Stürme tobt über das ausgemergelte Land und ein plötzlicher Blitz erhellt die Möchtegern-Cowboys von der traurigen Gestalt, während die Spielewelt für einen Moment zu erstarren scheint. Unterlegt sind die Ausschnitte mit traurigen Slidegitarren. Oft reicht schon ein Panoramaschwenk über die Postkartenmotiv-Canyons, um Wehmut in den Kommentarspalten auszulösen.

Es sind Momente der Kontemplation, vermittelt via Playstation und Xbox. Eine Mischung aus Urlaubsdiashow und Veteranentreff. Schließlich waren sie alle ganz nah dran, sind mit John Marston geritten und haben mit ihm gelitten. Immersion heißt dieses Phänomen, das vollständige Eintauchen in die virtuelle Welt ist der heilige Gral der Spiele-Entwickler. Natürlich muss in einem Western-Spiel alles Übliche vorhanden sein. Duelle wollen ausgefochten werden, Damen in Not gerettet und versteckte Schätze gefunden werden.

Auwändiges Flimmern

Und selbstverständlich muss in einem Western der größte Genremythos, die Landschaft, würdig vertreten sein. Die Spielwelt in Red Dead Redemption erscheint lebendig wie nie, auf den Pfaden flimmert die Hitze, Unschärfen locken den Blick. Allein für die Digitalisierung der Pferde hat das Rockstar-Team einige Tage im Motion-Capturing-Studio zugebracht.

Wenn es der Joystick-Cowboy zulässt, ist Red Dead Redemption jedoch viel mehr als nur die zwangsläufige Abfolge von Computerberechnungen: Der seelisch und körperlich vernarbte John Marston ist der erste Protagonist eines Videospiel, der es verdient hat, ernst genommen zu werden. In langen Dialogsequenzen sprechen die Figuren über vergangene Schuld und die Möglichkeit der im Titel angedeuteten Wiedergutmachung. Ständig begegnet Marston Schurken und Helden, die ihm ihre Ansichten zu den ganz großen Themen eröffnen: Glaube oder Ratio, Evolution oder Zivilisation, Freiheit oder Schicksal. Sie wollen verführen und locken dabei Figur und Spieler in diese oder jene Richtung.

Ein Spiel mit dieser Fallhöhe ist keine ganz neue Idee. Der verwitterte Marston ist aber die erste Figur, die glaubwürdig unter seinem Heldendasein und dem damit verbundenen Morden leidet.

"Marston, Sie sind ein hässlicher, wütender Bastard", sagt einer der Souffleure mit Stetson auf dem Kopf, "aber kein schlechter Mann", und drückt damit genau die Verwerfung aus, die sich hier durch den sonst meist eher stromlinienförmigen Archetypen Cowboy zieht. Die Autoren erlauben ihrem Helden dabei keine ironischen Brechungen wie etwa in Grand Theft Auto. Auch fehlt wie bei Heavy Rain der Versuch, ein interaktives Drama zu schaffen, dessen Arthouse-Anspruch mitunter auch einfach nur peinlich ist. Red Dead Redemption ist dagegen eine große, ernsthafte Kritik an der Gegenwart. Skrupellose Regierungsinstitutionen, unbarmherzige Technisierung und der bedingungslose Glaube an das Kapital haben sich zur Zeit der Handlung in den entstehenden Städten schon ausgebreitet.

Natürlich bleibt die Kritik zunächst naiv-romantisch. Doch nach zwei Dritteln der Kampagne - etwa 15 Stunden Echtzeit sind seitdem vergangen - hat man sich als Spieler schon so stark an die Weite der Prärie aus Bits gewohnt, dass es tatsächlich ein ungutes Gefühl bereitet, in eine dieser neuen Städte zu reisen. Weil die Hufe des Reittiers auf den gepflasterten Straßen natürlich einen anderen Klang hinterlassen als in der staubigen Ödnis. Und weil all die korrupten Beamten natürlich hundertmal schlimmer sind als die Trunkenbolde und Scharlatane, mit denen man sich zuvor herumschlagen musste.

Professor auf Morphium

Nie werden die Autoren müde, deutlich werden zu lassen, dass man hier den letzten Tagen einer Ära beiwohnt. Es tuckern die ersten Automobile durch die gar nicht mehr so wilde Landschaft und bleiben doch regelmäßig am Wegesrand liegen. Und es werden von einigen Nebenfiguren die letzten Bisonherden über die Great Plains gejagt.

Doch das Spiel bleibt auch hart gegenüber dem Genre, dem es entstammt. Etwa wenn einer dieser vermeintlich Zivilisierten, ein Ivy-League-Professor, der sich gerade noch einen Schuss Morphiumlösung gesetzt hat, ausspricht, was der geneigte Western-Freund längst weiß: "Ich habe davon geträumt, die letzten Tage des alten Westens zu dokumentieren - die Romantik, die Ehre, den Edelmut. Aber in Wahrheit sind da nur Typen, die sich gegenseitig umbringen."

Red Dead Redemption schafft so, was der interaktive Thriller Heavy Rain im Frühjahr 2010 so verzweifelt versucht hat: Man fühlt mit dem Protagonisten. Und trotz seiner Open-World-Struktur löst die Geschichte von John Marston den alten Konflikt zwischen spielerischer Freiheit und narrativem Korsett. Der Spieler hat schließlich zwar theoretisch die Freiheit, zu tun und zu lassen wonach ihm der Sinn steht, doch er verzichtet auf alle Abzweigungen und Ablenkungen: Marstons Schicksal zu erfahren ist wichtiger als der Highscore. Die offene Welt des Spiels dient nur als Erfüllungsgehilfe des Plots. Auf einer zweiten Ebene begeistern sich die YouTube-Cowboys allerdings nicht an komplexen Rätseln oder spektakulären Kämpfen, sondern an der Schönheit des Spiels. Red Dead Redemption ist ein spielbares Gemälde. Man ahnt endlich, was das Videospiel zu einer eigenen Kunstform machen könnte.

Das Kino bleibt das Vorbild

Bereits kurz nach seinem Erscheinen ist Red Dead Redemption deshalb der Favorit für den Titel "Spiel des Jahres". Ein Problem bleibt freilich bestehen: Noch immer eifert die Spiele-Industrie dem Kino nach. Egal ob Western, Thriller oder Action-Klamotte - für den Herbst 2010 kündigte Rockstar Games den programmatischen Titel L. A. Noire an, für den sich die Entwickler an den Detektivfilmen der vierziger Jahre orientieren - das Kino bleibt das große Vorbild. Eine Emanzipation ist nicht zu erkennen. Wie zum Beweis ließ Rockstar einen halbstündigen Red-Dead-Redemption-Kurzfilm produzieren, zusammengestellt aus Spielszenen. The Man from Blackwater lief zur besten Sendezeit auf Fox.

Vielleicht liegt es auch daran, dass der amerikanische Filmkritiker Roger Ebert kurz vor Erscheinen von Red Dead Redemption eine Kontroverse anzettelte, die das junge Medium noch immer beschäftigt. Videospiele sind "keine Kunst und werden niemals Kunst sein". Ebert, der nach eigener Aussage noch nie einen Joystick in der Hand hatte, behalf sich mit eher unfairen Vergleichen. Käme ihm ein Videospiel unter, dass es mit King Lear aufnehmen könne, würde er seine Behauptung überdenken. Später milderte er seine Kritik ab und schrieb, niemand, der heute Videospieler ist, werde erleben, dass "sein Medium Kunst werde".

Andere Kommentatoren argumentieren differenzierter, der Vorwurf bleibt allerdings derselbe: "Die Autoren sollte mehr auszeichnen, als nur einen Haufen Actionfilme gesehen zu haben. Sie sollten die Filme nicht kopieren, weil wir sonst zwar etwas haben, das Spaß macht, aber niemals mehr sein wird", schreibt der amerikanische Autor und Journalist Tom Bissel in seinem gerade erschienen Buch Extra Lives. Why Videogames matter. Noch sind solche Figuren wie der Cowboy John Marston rar. Für Bissel ist er keine Marionette mehr sondern ein Kollaborateur. Die Evolution der Avatare wird ihre Kraft aber niemals aus einer verbesserten künstlichen Intelligenz ziehen oder einer noch realistischeren Grafik. Sondern allein aus der Konsistenz und Qualität des Spielkonzepts.

© SZ vom 17.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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