Protest in Spaniens sozialen Netzwerken:Digitales Gewissen der Krise

Members of the student's union march as they protest against public education spending cuts in Barcelona

Von der Straße in die sozialen Netzwerke - im Internet hat die spanische Protestbewegung einen Zulauf von der Bewegungen in anderen europäischen Ländern nur träumen können.

(Foto: REUTERS)

"Uns ekeln die Politiker": Im Netz formiert sich eine spanische Protestbewegung, die versucht, ihre nationale Katastrophe zu begreifen. Viele Spanier besinnen sich auf die vorfrancistische Vergangenheit.

Von Sebastian Schoepp

Einst zierte sein Konterfei den 1000-Peseten-Schein, und manche Spanier wünschten sich derzeit, beide wären noch da: die Peseta und Benito Pérez Galdós - einer eben, der in schweren Zeiten mit klaren Sätzen Halt gibt. Der Schriftsteller geißelte Ende des 19. Jahrhunderts im monarchistisch-klerikal-konservativen Spanien die Auswüchse eines verkrusteten Zweiparteiensystem, das nicht regierte, sondern nur Pfründe unter seinen Anhängern verteilte.

Es klingt ziemlich aktuell, was der Realist Pérez Galdós damals in seinen Episodios Nacionales schrieb: "Die zwei Parteien, die vereinbart haben, sich an der Macht abzuwechseln, sind nichts anderes als zwei unterschiedliche Horden von Männern, die nach nichts anderem streben, als am Staatshaushalt zu schmarotzen."

Solche vorfrancistischen historischen Parallelen haben dem 1920 verstorbenen Pérez Galdós und anderen Schriftstellern längst vergangener Zeiten ungeahnte neue Popularität bei spanischen Internetnutzern verschafft. Ihre Sätze sind in Netzwerken eine häufig weitergereichte Ware. Bei dem Versuch, ihre nationale Katastrophe zu verstehen, greifen viele Spanier zurück in die Vergangenheit, Chats und Twitter ähneln manchmal Geschichtsdiskursen, viele davon auf ziemlich hohem Niveau.

Auch die Deutschen sind Zielgruppe

Auch sonst haben die Internet-Plattformen der Protestbewegung Zulauf, von der Bewegungen in anderen europäischen Ländern nur träumen können. Die Nutzer von Facebookseiten wie der der Gemeinschaft der Hypothekengeschädigten oder Spanish Revolution gehen in die Zehntausende, es gibt Dutzende und Aberdutzende Plattformen ähnlichen Zuschnitts, alles bündelt sich bei Democracia Real Ya mit knapp 490.000 Facebook-Freunden. Einen Rücktrittsaufruf an Ministerpräsident Mariano Rajoy wegen der Korruptionsaffären in seiner Partei haben nach Angaben der Veranstalter auf change.org mehr als eine Million Menschen unterschrieben.

Die Aktivisten formulieren nicht nur Aufrufe und Kommentare, sondern drehen auch kluge Videos, die den Spaniern die Krise häppchenweise erklären. Das ist pädagogisch wertvoll und staatsbürgerlich nötig. Denn eine Großteil der Menschen hat noch immer nicht so recht verinnerlicht, was da passiert ist und wie der einstige Wachstums-Musterknabe der EU in längst überwunden geglaubte Zeiten der Misere zurücktaumeln konnte.

Auch die Deutschen sind Zielgruppe solcher Videos. Eines erklärt anschaulich, dass nicht der kleine spanische Immobilienkäufer, sondern die spekulationshungrigen Banken die Krise auslösten - und welche Rolle deutsche Kreditinstitute dabei spielten. Die verliehen nämlich bereitwillig Geld an spanische Banken, wovon auch deutsche Sparer während des Booms profitierten. Das Video ist keine Anklage, sondern ein Appell: In der Euro-Krise dürfe es nicht darum gehen, dass die Länder Europas einander belauerten. Vielmehr sei der Mittelstand des ganzen Kontinents gemeinschaftliches Opfer von Spekulanten.

"Sie haben keine Ideale"

Dass in Spanien soziale Netzwerke so gut funktionieren, hat auch und vor allem mit der Schwindsucht der traditionellen politischen Presse zu tun. Die großen Zeitungen sind von der Ausrichtung her klar bestimmten Parteien zuordenbar - und Parteipolitik hat in Spanien nach den vielen Korruptionsskandalen wenig Konjunktur.

Das Zweiparteiensystem aus Konservativen und Sozialisten - ein würdiger Nachfolger der Verhältnisse zu Pérez Galdós' Zeiten - ist am Zerfallen, Nachfolge ist nicht in Sicht. Also organisiert sich der Protest auf parteiunabhängige, individuelle Weise in Bürgerplattformen und Protestbewegungen.

An dem Trend zum Internet haben die Zeitungen selbst großen Anteil. Sie haben nach Meinung von Beobachtern die Spanier durch jahrelanges, selbstzerstörerisches Verschenken ihrer kompletten Inhalte im Netz vom Papier praktisch entwöhnt. Die daraus resultierenden Finanznöte haben zu Massenentlassungen bei den großen Blättern geführt, das zwingt auch namhafte Journalisten, sich jenseits der etablierten Medien Kanäle zu suchen. So existiert etwa die vor Jahresfrist dichtgemachte linke Zeitung Público weiter im Internet. Auf Facebook hat sie 239.000 Freunde und lässt das im Printbereich führende Traditionsblatt El País mit 182.000 weit hinter sich.

Sie wollen würdige Nachfolger sein von Pérez Galdós

Ein neuer Faktor in der Medienlandschaft ist die Internetzeitung Eldiario, die 69.000 Facebook-Freunde hat. Sie bietet etwas, was spanischen Zeitungen bislang fehlte: gut geschriebene Analyse auf hohem Niveau, die über das Herunterbeten von Fakten hinausgeht. Ihr Motto lautet: "Journalismus trotz allem", was sich auch auf die miserablen Verdienstmöglichkeiten für Journalisten in Spanien bezieht. Eldiario lebt von Spenden und spärlicher Werbung, trotz ihrer eingeschränkten Möglichkeiten treiben der gelernte Rundfunkjournalist Ignacio Escolar und sein Team die Konkurrenz mit klugen Betrachtungen vor sich her.

Sie wollen würdige Nachfolger sein von Pérez Galdós, der seinerzeit über die Parteien Spaniens schrieb:

"Sie haben keine Ideale, kein höheres Ziel treibt sie. Sie werden nicht im Mindesten die Lebensbedingungen dieser unglücklichen, armen und ungebildeten Rasse verbessern. (...) Sie werden weder das religiöse, noch das wirtschaftliche, noch das Bildungsproblem anpacken. Sie werden nichts aufbauen als reine Bürokratie, Caciquismo, eine sterile Dienstwelt aus Empfehlungen und Gefälligkeiten für Freunde, sie werden Gesetze ohne jede praktische Effizienz verabschieden. (...) Es werden Jahre vergehen (...) bis dieses Regime, angesteckt von ethischer Schwindsucht, ersetzt wird durch ein anderes, das frisches Blut bringt und neue Feuer geistigen Leuchtens."

Die Kommentare zu diesen Sätzen im Internet zeigen, dass zahlreiche Spanier einen Schritt weiter denken als ihre politische Klasse. Ein Nutzer mit dem alias Drume negrita schreibt auf Facebook:

"Es geht nicht um die politische Klasse, sondern leider um die ganze Bevölkerung, die es sich in Ignoranz gemütlich eingerichtet hatte. Mich amüsiert die Empörung der Menschen und selbst meine eigene. Uns ekeln die Politiker an, weil wir wissen, dass sie uns ähneln."

So viel Selbsterkenntnis ist zwar nicht immer und überall anzutreffen, jedoch wird aus Tausenden Nutzerkommentaren sichtbar, dass die aus Pérez Galdós' Zeiten ererbte Korruption in ihrer vielfältigen Formen als Bestandteil des Alltags in Spanien längst nicht mehr gesellschaftsfähig ist. Der Wandel durch das freie Wort im Netz ist in vollem Gange.

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