Süddeutsche Zeitung

Privatsphäre:Das Internet, ein überwachtes Zuhause

Das Netz ist längst zur realen Lebenswelt geworden, kaum jemand "geht" noch "online" - viele sind es permanent. In diesem Zuhause führen sich Regierungen, Unternehmen und Geheimdienste so auf, als wäre es ihr Haus. Das schüchtert die Bürger ein - und macht sie zu Untertanen.

Ein Kommentar von Johannes Boie

Da war es wieder, dieses Wort, das für alles steht, was die Regierung am Internet nicht begreift: "Fernmeldeaufklärung". Es ist ein Begriff aus der Sprache der Geheimdienste, er fällt, wenn es ums Abhören geht, ganze egal, ob es sich um eine Telefonverbindung oder ein Internetkabel handelt. Zuletzt fiel er, als Kanzleramtsminister Ronald Pofalla beteuerte, es gebe "keine flächendeckende Datenauswertung deutscher Bürger".

"Fernmeldeaufklärung" - das klingt so, als wäre das Netz ein Kommunikationsmedium wie das Telefon. Klar, einerseits fällt der Begriff, weil die Sprache von Behörden und Politik eben auch dann alt ist, wenn sie neue Technologien beschreibt. Andererseits aber charakterisiert das Wort auch den Umgang der Regierung mit dem Netz.

Und der ist katastrophal. Das Internet ist heute längst ein integraler Bestandteil der realen Welt. Kaum jemand "geht" noch "online", so wie man telefoniert und dann wieder auflegt. Vor allem die jüngere Generation ist permanent online, über ihr Smartphone, ihr iPad, bald vielleicht sogar über ihre Brille.

Und selbst wer keinen Facebook-Account hat, nicht twittert und niemals skypt, ist längst täglich online, es reicht, die Kreditkarte zu benutzen oder an einer Überwachungskamera vorbeizulaufen. All diese Daten rauschen durchs Netz. Die Betrachtung des Netzes als Medium, das man regulieren muss und überwachen kann wie früher ein Faxgerät, ist deshalb auch eine Missachtung der Wähler.

Genau das verstehen Politiker wie Pofalla nicht: dass das Netz für viele Deutschen zur Lebenswelt geworden ist. Für diejenigen, die jetzt den Aufschrei proben, ist es ihr Zuhause. Wird es überwacht, werden ganze Leben überwacht. Und nicht, wie beim Telefon, einzelne Gespräche. Nicht nur deshalb ist dieses Zuhause in Gefahr.

Mehr und mehr lebt man im Netz in einem Zuhause, in dem sich Regierungen, Politiker, Unternehmen und Geheimdienste so aufführen, als wäre es ihr Haus, und nicht das der Bewohner oder wenigstens ein öffentlicher Raum. Es wird gegen den Willen der Bewohner umgebaut und eingerissen. Abgeordnete wie Norbert Geis (CSU) möchten ganze Räume schließen, indem sie Netzsperren fordern.

Gelegentlich kommen in dem Zuhause auch Vertreter von Unternehmen wie Facebook vorbei und wühlen noch durch die privatesten Gegenstände. Eigentlich sollte die Regierung ihre Bürger vor solchen Attacken auf ihr Zuhause zu schützen. Stattdessen führt sie diese aus oder wird zum Komplizen.

Das alles führt zur Einschüchterung der Nutzer. "Chilling Effects" nennt man es, wenn allein das Wissen, dass Überwachung, zumal flächendeckende, stattfinden könnte, zu vorauseilendem Gehorsam führt. Wenn sich Nutzer fragen, ob die Nachricht, die sie schreiben, das Video, das sie anschauen, die Lektüre des Textes, den sie lesen, nicht irgendwann gegen sie verwendet wird. Und dann die Nachricht nicht schreiben, den Text nicht lesen, das Video nicht gucken. Wer so aus Angst vor Folgen handelt, ist fremd im eigenen Haus. Er ist auch kein Bürger mehr. Er ist ein Untertan.

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Quelle:
SZ vom 14.08.2013/sana/rus
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