Pornografie im Internet:Sex wie im Drehbuch

Vor den Computer-Bildschirmen der Welt spielt sich ein reales Langzeit-Experiment ab: Was passiert, wenn Millionen Menschen regelmäßig Pornografie konsumieren? Wissenschaftler sind sich uneins.

Christian Weber

Visitor takes a picture of a porn actress with his Ipad during the Sex and Entertainment 2012 adult exhibition at the Palacio de los Deportes in Mexico City

Pornografie gehört zum Beliebtesten, was sich Deutsche im Internet ansehen.

(Foto: REUTERS)

Es war ein ungewöhnliches Geständnis, mit dem die PR-Unternehmerin Cindy Gallop, damals 49, ihren Vortrag auf der TED-Konferenz 2009 in Monterrey begann, einer hippen Veranstaltung, in der sich kluge Menschen Gedanken darüber machen, wie neue Technologien die Welt verändern.

"Ich gehe mit jüngeren Männern aus", bekannte Gallop, so mit Männern Mitte 20, erläuterte sie. "Und wenn ich mit jüngeren Männern ausgehe, habe ich Sex mit ihnen. Und wenn ich Sex mit jüngeren Männern habe, begegne ich sehr direkt und persönlich den Folgen der schleichenden Ausbreitung der Hardcore-Pornografie in unserer Kultur." Sie bat dann die empfindsameren unter ihren Zuhörern, sich die Ohren zuzuhalten. Sie wurde dann sehr explizit, was sich im Detail auf ihrer Webseite makelovenotporn.com nachlesen lässt. Dort geht es um den Unterschied zwischen dem, was Porno-Regisseure inszenieren und dem, was lustvoller Sex in der Realität sein kann, und dass zunehmend mehr junge Menschen diesen nicht mehr kennen.

Die sexuell unternehmungslustige Cindy Gallop ist eine gute Gewährszeugin für ein Problem, das gleichermaßen dramatisiert und unterschätzt wird, ein reales Langzeitexperiment, das derzeit in fast allen Gesellschaften abläuft, in denen Wohnungen über Internet-Anschlüsse verfügen. Man muss weder prüde noch bigott sein, um sich die Frage zu stellen, ob es gut ist, was Pornografie mit Menschen macht.

Natürlich ist die bildliche Darstellung nackter Menschen beim Geschlechtsverkehr eine seit Urzeiten verbreitete Praxis. Doch war Pornografie früher nie wirklich leicht zugänglich. Früher befriedigten pubertierende Jugendliche ihre Neugierde mit verstohlenen Blicken in die Kunstbände der Eltern oder in den schlecht versteckten Playboy des Vaters, und wenn jemand tatsächlich ein Pornoheftchen aufgetan hatte, war das schon ein Highlight.

60 Prozent der Männer, 10 Prozent der Frauen konsumieren täglich

Heute hat fast jedermann über das Internet kostengünstig und anonym Zugang zu Pornografie. Die Folgen zeigen die Statistiken. Einer Onlinebefragung der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) zufolge konsumierten im Jahr 2008 rund 60 Prozent der Männer und circa zehn Prozent der Frauen täglich oder zumindest wöchentlich Pornografie. Rund ein Drittel der Mädchen und Jungen haben nach der Dr.-Sommer-Studie des Marktforschungsinstitutes Iconkids & Youth bereits im Alter von elf Jahren zum ersten Mal einschlägige Bilder oder Filme gesehen. Bis zum 17. Lebensjahr sind es dann 93 Prozent der Jungen und 80 Prozent der Mädchen, wobei nur acht Prozent der Jungen und ein Prozent der Mädchen regelmäßig konsumieren. Immerhin 35 Prozent der Jungen berichten, "hin und wieder" darauf zuzugreifen.

Ein einigermaßen hartes Ergebnis liefert auch die Webtraffic-Analysemaschine Alexa, sie listet die Pornovideo-Seite xhamster auf Platz 24 der meistbesuchten Webseiten in Deutschland, das notorische Youporn schafft es auf Platz 39, direkt vor dem Webangebot der Süddeutschen Zeitung auf Platz 40. So lässt es sich wohl nicht mehr bestreiten, dass Pornografie es in den medialen Mainstream geschafft hat. Der § 184 StGB, der jegliches Zugänglichmachen von pornografischen Material an Jugendliche unter 18 unter Strafe stellt, ist da nur noch ein Witz.

Ekelpornografie wird nur als Mutprobe konsumiert

Manche Autoren beschwören deshalb bereits eine angeblich sexuell verwahrloste Jugend, die immer früher die Skripte der Pornoindustrie nachspielt. Sie berichten von 14-jährigen Mädchen, die sich zum Gangbang hergeben, von sexuellen Übergriffen fast noch im Kindesalter, von verrohter Sprache. Solche Fälle findet man tatsächlich, wenn man Sozialarbeiter und spezialisierte Therapeuten fragt, die deshalb nicht selten dieser These nahestehen. "Ich habe mehrere traumatisierte Frauen behandelt, die von ihren eigenen Brüdern nach dem wiederholten Konsum pornografischer Filme sexuell missbraucht wurden, selbst dort, wo die Geschwister in einem guten, empathischen Elternhaus lebten", berichtet die Therapeutin Tabea Freitag, Psychologin bei Return - Fachstelle Mediensucht in Hannover.

Sie erzählt Geschichten wie diese: Eine Mutter fand im Internetbrowser 30 Adressen wie "Geile Thaiteens stehen auf Hardcore, Der beste Horrorsex, Der härteste Sex, Livecams kostenlos". Ihr neunjähriger Sohn hatte sie aufgerufen, während sie einkaufen war. "Obwohl die Eltern klar und einfühlsam mit ihm geredet hatten, erwischten sie ihn später dabei, wie er seine kleine Schwester sexuell nötigt."

Doch wie repräsentativ sind solche Vorfälle. Ist Pornografie die Theorie und sexuelle Verwahrlosung die Praxis? Ach was, widerspricht die Sexualforscherin Silja Matthiesen vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf: "Da ist viel Alarmismus und Hysterie in der Debatte." Schon die sexualdemografischen Daten sprächen gegen die These der Verwahrlosung. Seit der sexuellen Revolution der 70er Jahre würden Jugendliche unverändert im Alter von 15 bis 17 sexuell aktiv, die Zahl der minderjährigen Schwangerschaften sinke seit Jahren. "Die meisten Jugendlichen wünschen sich Sex in Liebesbeziehungen, Treue ist ihnen wichtig." Nur die Dauer der Beziehungen nehme ab.

"Natürlich haben alle schon mal Pornos geguckt, aber daran ist nichts neu und zunächst einmal nichts schlimm", sagt Matthiesen. Das habe auch eine Ende 2011 abgeschlossene qualitative Interview-Studie bestätigt, bei der 160 Jungen und Mädchen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren aus Hamburger und Leipziger Gymnasien und Berufsschulen ausführlich über ihre Erfahrung mit Pornografie befragt wurden. Das Ergebnis deute auf einen gesunden Umgang mit Youporn-Videos und Sex-DVDs hin, wobei sich Jungs und Mädchen in ihrer Nutzung stark unterschieden: "Jungen sind allein auf der Suche nach Pornos, sie klicken meist kurze Clips an, zu denen sie regelmäßig masturbieren", sagt Matthiesen, "also ganz altersgemäß und überhaupt nicht erschreckend." Mädchen seien sehr viel weniger interessiert, eher scheu, "wenn Mädchen Pornos gucken, eher mit Freundinnen oder in der Gruppe, zum Lachen und zum Kichern."

Interesse an Pornos flaut im Alter von 18 Jahren ab

Gemeinsam sei beiden Geschlechtern, dass sie sich eher für den ganz normalen, heterosexuellen Sex interessieren. "Die Betrachtung von Gewaltpornografie, Ekelpornografie oder ,krasser Pornografie', wie die Jugendlichen sagen, dient ihnen als Mutprobe", sagt Matthiesen. "Sie finden diese Pornos eklig und versichern sich mit ihrer heftigen Ablehnung des ,Perversen' ihrer eigenen Normalität." Mit 18 bis 19 flaue das Interesse an Pornos ohnehin wieder ab, nicht zuletzt, weil viele eine feste Beziehung eingehen und mehr realen Sex erleben. Und ja doch, die Jugendlichen könnten Videoclip und wirkliches Leben unterscheiden, auch die männlichen Jugendlichen würden das Frauenbild des Pornos nicht in ihr Schlafzimmer mitnehmen.

"Die Forschung schaut zu sehr auf die Risiken als die Chancen des Web 2.0", resümiert Matthiesen und verweist auf weitere Möglichkeiten, sich in Chats und Foren auszuprobieren, online zu flirten, Geschlechterrollen auszuprobieren, bei vergleichsweise geringen Kosten und Risiken. Natürlich gebe es auch unangenehme Erfahrungen - "so haben knapp 18 Prozent der Frauen schon mal Chat-Cam-Exhibitionismus erlebt", also entblößte Genitalien auf dem Bildschirm gesehen - doch der Umgang mit solchen Erlebnissen gehöre nun mal zu "einer sexuellen Sozialisation im 21. Jahrhundert, sei es online oder offline".

Internet-Pornografie kann abhängig machen

Allerdings gesteht Matthiesen, dass ihre Studie eher die schulisch integrierten Mainstream-Jugendlichen abbildet, die normalen Konsumenten, nicht die Systemverlierer und die Intensiv-Konsumenten. So ist unter Psychiatern mittlerweile unbestritten, dass der massive Konsum von Internet-Pornografie bei einer wohl relevanten Anzahl von Menschen eine Abhängigkeit auslösen kann, auch wenn die diagnostische Einordnung und die Kausalitäten unklar sind. Es ist ein Problem, das auch gestandene Erwachsene betrifft. Therapeutin Freitag berichtet von dem 45-jährigen S., beschäftigt in der IT-Branche, der von einem Kollegen Links zu Hardcore-Seiten gezeigt bekam - "das peppt eure Ehe auf". Er war schnell angefixt, obwohl er sich selbst dabei verabscheute. "Für mich tat sich eine neue Welt auf", sagte er. S. driftete in die SM-Szene ab, wo er auf virtueller Ebene Kontakt zu anderen Usern fand. Da war der letzte Widerstand gebrochen. Er begehrte seine Frau nicht mehr, die Partnerschaft zerbrach, er verlor seinen Arbeitsplatz.

Der Hamburger Sexualtherapeut Andreas Hill warnte Ende 2011 in einem Überblicksartikel für die Zeitschrift für Sexualforschung davor, "sich in einem vermeintlich liberalen Optimismus einzurichten". Seine Analyse der empirischen Studien zur Wirkungsforschung bei Jugendlichen zeugen schon von bedenklichen Korrelationen, insbesondere bei Intensivkonsumenten: So könnten diese zwar noch kognitiv die Irrealität der Pornografie erkennen. Sie ließen sich aber dennoch von ihr beeinflussen, so wie jeder der Werbung misstraue und dann doch die aus dem Fernsehen bekannten Frühstücksflocken kauft.

Pornodarsteller setzen ästhetische Normen

Starker Pornografiekonsum gehe, so Hill, eher mit geringerer Lebens- und sexueller Zufriedenheit einher, weil sich die Rezipienten mit den Körpern und Leistungen der professionellen Sexdarsteller verglichen. Er korreliere außerdem mit hohem Alkoholkonsum, Risikosex, beim Konsum von Gewaltpornografie auch mit sexuell übergriffigem Verhalten. Bei Mädchen könnten die Stereotypen der Videos zu einer mangelnden Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse führen; soll heißen: Sie machen Dinge im Bett, die ihnen eigentlich zuwider sind.

So bedenklich das klingt, rechtfertige die Forschungslage aber genauso wenig "einen reaktionären Pessimismus, der das Schreckgespenst einer allgemeinen sexuellen Verwahrlosung" an die Wand malt, bemerkt Hill. Die Effektstärken seien in der Regel klein, die Kausalitäten unklar: Es sei bislang eben nicht eindeutig zu sagen, ob die Pornografie sexuell aggressiv mache oder ob die ohnehin Aggressiven sich das passende Material suchten.

Vielleicht ist es aber auch so, dass manche Effekte der Pornografie unter der wissenschaftlichen Wahrnehmungsschwelle liegen, entweder weil sie zu subtil sind für die gängigen Fragebogen-Methoden oder weil es nicht sehr aussichtsreich ist, Drittmittel zu beantragen, um etwa die Frage zu untersuchen, warum immer mehr junge Frauen, zunehmend auch Männer, sich die Schamhaare abrasieren. Nur eine Mode?

"Männliche und weibliche Pornodarsteller setzen ästhetische Normen bezüglich Busen, Bauch, Po und Geschlechtsorganen", sagt die emeritierte Pädagogin Karla Etschenberg von der Universität Flensburg und ehemalige Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtserziehung. Etschenberg misstraut Studien, die Entwarnung geben. "Wer weiß denn wirklich, was im Innern von Zwölfjährigen passiert, die zum ersten Mal auf Youporn stoßen - zeigt sich das in einer Antwort auf einem Fragebogen oder im Ankreuzen einer vorformulierten Antwort?" Und die derzeitige Zurückhaltung der Jugendlichen beim Sex sieht sie nicht nur positiv. "Wenn Jugendliche derzeit eher spät mit dem Sex anfangen, deutet das vielleicht auch darauf hin, dass ihnen pornografische Bilder Angst gemacht haben. Das ist auch keine gesunde Entwicklung."

Schule soll über Pornografie aufklären

Etschenberg plädiert deshalb dafür, dass Kinder und Jugendliche bereits in der Schule lernen, mit Pornografie umzugehen, "sie brauchen Pornografie-Kompetenz, denn wir werden die Bilder und Filme in Internet nie mehr löschen können". Das Lernziel: "Man muss den Jungen klar machen, dass ein Mann nicht drei Stunden rumbumsen muss. Und die Mädchen sollten wissen, dass manche Praktiken von Schauspielern und Schauspielerinnen nur gegen Bezahlung dargestellt werden."

Dieses falsche Bild vom Sex sei das eigentliche Problem, glaubt auch der Sexualwissenschaftler und DGSS-Präsident Jakob Pastötter. "Die Darsteller agieren so, dass der Zuschauer interagierende Genitalien beobachten kann. Es geht um Einblicke, optische Abwechslung, zugleich haben die Zuschauer absolute Kontrolle, sie kontrollieren bei der Masturbation mit ihrer Hand feindosiert ihre Erregung." Im lustvollen partnerschaftlichen Sex gelten aber Regeln jenseits einer solchen Pawlow'schen Selbstkonditionierung. "Im realen Sex müssen sich die Partner fallen lassen, zugleich werden die Phantasien des Sehens nicht bedient. Da geht es um Hautkontakt, ums Fühlen, Schmecken, Riechen, um Vertrauen, Genuss, alles Dinge, die filmisch nicht darstellbar sind."

"Pornografie konsumieren wie Alkohol"

Vor allem deshalb sollten Kinder und Jugendliche, "die Finger von Pornografie lassen, solange sie nicht eigene sexuelle Erfahrungen gemacht haben". Wer zu früh mit dem virtuellen Sex anfange, der programmiere Kopf und Körper falsch, so dass ihm das Erleben realer Lust schwerfalle. "Die Probleme fangen häufig so mit 25 Jahren an, da stellen intensive Pornokonsumenten plötzlich fest, dass sie impotent sind."

Pastötter gibt zu, dass sich seine Vermutungen bislang wissenschaftlich nicht belegen lassen - "versuchen sie mal solche Fragestellungen für eine Studie empirisch zu operationalisieren". Er sagt aber dennoch: "Ich bin überzeugt, dass Pornografie die reale Sexualität beschädigen kann." Dabei sieht er sich nicht als Puritaner: "Pornografie ist ein tolles Konsumgut, wenn man mit ihr umgehen kann." Aber man sollte sie so vorsichtig konsumieren wie hochprozentigen Alkohol. "Deshalb sollte auf jedem Video eine Warnung stehen: Vorsicht, das Betrachten von Pornografie kann ihrer sexuellen Gesundheit schaden."

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