Süddeutsche Zeitung

Orte zum Abschalten:Die fünf schönsten Funklöcher

Keine E-Mails checken, keine SMS, keine Anrufe. Endlich mal abschalten. Geht das überhaupt noch? An einigen wenigen Orten stehen die Chancen gut. Fünf Vorschläge.

Von Martin Wittmann, Jana Stegemann, Verena Mayer, Laura Hertreiter, Roman Deininger und Birgit Lutz

Früher feierten die Menschen Geräte, mit denen sie kabellos und nahezu überall telefonieren konnten, als moderne Instrumente der Freiheit. Viele Menschen sind heute allerdings ernüchtert und kommunikationstechnisch ermüdet - die allgegenwärtige und öffentliche Telefoniererei gilt als laut und stressig und unhöflich und ungesund. Michele Madonna, Pfarrer der Gemeinde Santa Maria di Montesanto in Neapel, war auch einer dieser Genervten. Er hat sich deswegen ein nicht minder modernes Instrument zugelegt, für seinen ganz eigenen Freiheitskampf: ein Gerät, das verhindert, dass die anderen Geräte funktionieren. Er hat also einen Störsender in seiner Kirche installiert, um das ständige Handygebimmel während der Messe zu unterbinden. Und jetzt ist Ruh' - kein E-Mail-Checken, keine SMS, keine Anrufe. Für viele Menschen, die nicht nur das fremde Klingeln stört, sondern die höchstselbst unter Handy-Zwang und der Pflicht zur ständigen Erreichbarkeit leiden, ist Padre Michele Madonna ein stiller Held. Wir stellen ein paar weitere Orte vor, an denen (theoretisch) keine Handys benutzt werden dürfen oder können.

Reichmannshausen

In der Großgemeinde Schonungen in Unterfranken haben sie eigentlich alles: einen Autobahnanschluss, acht Kindergärten, elf Kirchen, mehr als 100 Vereine und Verbände, außerdem so viel Wald wie nirgendwo sonst in der Region - und ein großes Funkloch. In mehreren Ortsteilen gibt es keinen Empfang. Das idyllische Reichmannshausen und seine 484 Einwohner hat es besonders hart getroffen: Hier können die Menschen nur per Festnetz telefonieren. Internet oder Handyempfang gibt es nicht (außer sehr schwach auf vereinzelten Balkongeländern und Fensterbrettern). Der Grund: Reichmannshausen liegt in einer Senke. Um hier vollen Empfang zu haben, müssten gleich mehrere Sendemasten aufgestellt werden. Das lohnt sich für Mobilfunkanbieter nicht, die sich gerne damit rühmen, 99 Prozent der deutschen Bevölkerung zu versorgen. Weil nun aber kaum jemand ins Funkloch ziehen möchte, bleibt die Gemeinde auf Bauplätzen sitzen. Sogar demonstriert haben die Reichmannshausener schon für Empfang - bisher vergeblich.

Café Sperl in Wien

Über Wiens Kaffeehäuser gibt es jede Menge Geschichten. Dass man früher keinen "Verlängerten" oder "Großen Braunen" bestellte oder wie diese Wiener Kaffeespezialitäten alle heißen, sondern der Ober eine Farbpalette hatte, und man zeigte, in welchem Braunton man seinen Kaffee wollte. Eine dieser Geschichten stimmt immerhin. Im Café Sperl, einem der klassischen Kaffeehäuser mit Marmortischen, Samtbezügen und Zeitungen, darf man nicht telefonieren. "Bitte kein Handy" steht auf einem Schild mit goldenem Rahmen drumherum. Und tatsächlich: Kein Geklingel, keine Whats-App-Benachrichtigungstöne. Nur Zeitungsgeraschel und das Klappern von Kuchentellern, Musik wird hier, wie in den meisten Kaffeehäusern, auch nicht gespielt. Die Leute fänden das Handyverbot gut und würden sich daran halten, sagt ein Kellner. Freiwillig. Um ihre Ruhe zu haben. Schließlich sei das Wiener Kaffeehaus, so der Schriftsteller Alfred Polgar, kein normaler Ort, sondern "eine Weltanschauung": Man gehe hinein, um die Welt draußen nicht mehr anzuschauen.

Raum der Stille in Berlin

Mitten im Wahrzeichen einer Stadt, die viel dafür tut, laut, bunt und wild zu sein, in der jeder Club abgedrehter und hipper sein will als der andere, herrscht auf 30 Quadratmetern absolute Ruhe. Der "Raum der Stille" im Brandenburger Tor in Berlin sieht ein bisschen aus wie ein Wartezimmer. Dunkle Fliesen, dunkle Stühle, Hocker und Sitzkissen, angegraute Gardinen. "Treten Sie ein, hier dürfen Sie schweigen", steht auf einer Tafel am Eingang. Vor zwei Jahrzehnten wurde der Ort nach dem Vorbild des Meditationsraums im UN-Gebäude in New York eröffnet. Orte der Stille gibt es inzwischen an vielen Universitäten und Krankenhäusern, in Bahnhöfen und Landtagen. Aber nirgendwo ist der Effekt so groß, wie im Brandenburger Tor: Türe schließen, untertauchen. Das Berliner Lärmgemisch aus Verkehrsgedröhne, Akkordeongequietsche und Menschen, die in Headsets brüllen, bleibt draußen. Und das, obwohl hier am Tag bis zu 300 Besucher aller Länder und Religionen gemeinsam schweigen. Was für ein cooler Club.

Ruheabteil der Bahn

Behände wie stets ist die Deutsche Bahn diesseits und jenseits der Stille unterwegs. Im "Handybereich" der ICEs soll man dank eines verstärkten Signals besonders gut telefonieren können; im "Ruhebereich" soll man vor jeglicher Lärmbelästigung durch redselige Reisende sicher sein. Dazu ist man blöderweise darauf angewiesen, dass die werten Mitfahrer das rot durchgestrichene Handy-Symbol an der Abteiltür erstens sehen, zweitens verstehen und drittens respektieren. Da muss also viel zusammenkommen. Die Bahn hat deshalb noch ein "Psst"-Symbol nachgelegt, das Geschäftsleute indes auch gern so interpretieren, dass Kinder nicht schreien, sie aber jederzeit mit der Firma telefonieren dürfen ("Sagen Sie Herrn Wagner, ich bin gegen 17 Uhr in Darmstadt"). In solchen Fällen kann man sich aber meistens auf die ebenso rasche wie energische Intervention einer pensionierten Gymnasiallehrerin verlassen, die den Regelverletzern den kulturhistorisch eher engen Bedeutungsrahmen von "Psst" erläutert. Gelingt ihr das, ist so ein Ruhebereich im ICE schon irgendwie außergewöhnlich: So viele Menschen, und so wenig Worte.

Nordpol

Am Nordpol gibt es: Kälte, Eis und Stille. Besucht wird der nördlichste Punkt der Welt von sehr wenigen Leuten im Jahr, ein paar kommen auf Skiern, ein paar mehr auf einem Eisbrecher, im Sommer. Nicht viel los dort also, und genau das ist das Interessante: Dass das Nichtvorhandensein von Dingen einen Ort so besonders machen kann. Kein Telefon klingelt, kein Mailprogramm gongt. Gibt es alles nicht, es gibt nur Hier und Jetzt, Tausende Kilometer Reise und kein einziges Handysignal. Manche Menschen kommen genau deswegen auf fernreisende Schiffe im Norden, weil endlich alles andere an Land bleibt. Ein Traum für gestresste Menschen. Für manche ein Albtraum. Einer steht nach drei Tagen beim Funkoffizier und fragt, ob er das Satellitentelefon des Schiffs benützen darf, kurz nur. Das geht, aber es ist kein Ersatz für das Handy, denn man darf es nicht mitnehmen, und darauf herumwischen kann man auch nicht. Das muss man auch erst aushalten, sagt er am fünften Tag. Am Nordpol geht er alleine spazieren und sagt am Ende, er höre seinen Tinnitus gar nicht mehr. Im Hafen kann er dann aber nicht anders und schaltet sein Handy noch auf dem Schiff ein. Nur den Klingelton, sagt er, den stellt er jetzt leiser.

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SZ vom 03.01.2015
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