Online-Sucht:Als World of Warcraft zum Leben wurde

Online-Spiele müssen nicht süchtig machen, doch immer wieder verlieren sich Menschen in der digitalen Welt. Jahrelang irrte der 23-jährige David durch Paralleluniversen im Netz. Sein Weg zurück in die Realität ist schwerer, als sich erahnen lässt.

Charlotte Frank

Könnte er sich doch unsichtbar machen. Jetzt einfach kurz aus dieser Welt abtauchen, dem eigenen Leben davonspazieren und es mit seinem ganzen Ärger und schlechten Erinnerungen sich selbst überlassen. Wie früher.

Online-Sucht: Jugendliche spielen "World of Warcraft": Der Reiz der virtuellen Welt.

Jugendliche spielen "World of Warcraft": Der Reiz der virtuellen Welt.

(Foto: ag.ap)

Früher konnte David, 23, sich unsichtbar machen wie kein Zweiter. Er konnte auch, das sei nur nebenbei erwähnt, wilde Krieger besiegen, Drachen köpfen und reiten wie der Teufel. Er war ein Held.

Nun sitzt der Held zusammengesunken im Behandlungszimmer einer Psychiatrie in Hannover und macht sich, wenn schon nicht unsichtbar, dann zumindest so klein wie möglich. Sein Blick ist gesenkt, sein Rücken rund, seinen Hals hat er eingezogen wie eine erschrockene Schildkröte. Ganz leise und hastig beginnt er seine Geschichte zu erzählen, lässt Vokale und ganze Silben einfach aus, sie sind ihm verloren gegangen über die Jahre.

Er sagt zum Beispiel, er habe nur noch vor dem "Compter" gelebt, in der "virtuellen Welt" von "W.o.W.". Die Buchstaben stehen für World of Warcraft, ein Online-Rollenspiel, bei dem es grob gesagt darum geht, eine Fantasy-Welt zu erobern und sich durch mystische Missionen zu kämpfen.

Bis zu zwölf Stunden W.o.W

Dafür locken Belohnungen, endlich auch mal für jene, die im echten Leben eher selten gewinnen. David verschwand täglich bis zu zwölf Stunden in "W.o.W.", dann 15, zuletzt 20 Stunden am Stück. Dass er krank war, bemerkte er nicht, er war ja ein Held. Sagte er. Ein Wrack, sagten die anderen.

Aber David ist längst kein Einzelfall mehr. Online-Sucht wird zunehmend zum Problem, hat jüngst Mechthild Dyckmans gewarnt, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung: 560.000 Menschen, ein Prozent der Deutschen, sind schon betroffen, darunter besonders viele Jugendliche.

2,5 Millionen weitere gelten als gefährdet. 2012 will Dyckmans den Kampf gegen Online-Sucht deshalb zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit machen. Aber wofür oder wogegen kämpft sie dann überhaupt?

Um das zu verstehen, fährt man am besten nach Hannover und trifft dort den 23-jährigen David - und, gleich nebenan, Bert te Wildt, der Psychiater und Psychotherapeut an der Medizinischen Hochschule Hannover ist und dem Fachverband Medienabhängigkeit vorsitzt.

"Meistens geschwänzt und gekifft"

David ist ein kindlicher Mann mit blauen Augen, die beim Reden irritiert blinzeln, als hätte ihn jemand überraschend aus einer Höhle gezerrt. So ähnlich ist es ja auch: Vor zehn Monaten hat er aufgehört zu spielen, ganz langsam tastet er sich jetzt zurück ins echte Leben. Als besonders gut hat er es nicht in Erinnerung.

In der Hauptschule war er einer von denen, die in allen Fächern schlecht waren, sogar in Sport. "Wir haben meistens geschwänzt und gekifft", sagt er. Wir, das waren er und die anderen Außenseiter, die auch keine Freunde hatten, Freundinnen eh nicht.

Hinter der virtuellen Traumfrau steckte ein Mann

Aber es gab ja das Internet: David floh ins Chat-Forum Knuddels, "da wurden Herzen verschickt", sagt er. Er bekam oft Herzen, auch, als er die Schule abbrach, pleite war und arbeitslos. Selbst dann noch, als er Stimmen hörte und ihn Panikattacken überfielen.

Je böser die echte Welt wurde, desto besser lief es online: Im Forum wurde er "Stammi", so hießen Stammchatter, die so richtig dazugehörten. Dann entdeckte er die Rollenspiele - und wurde zum Helden.

Davids Sprache wird fließend, als er von den Aufgaben erzählt, die er in World of Warcraft gelöst hat, von den virtuellen Freunden, die ihn bewundert haben, von Festen, die sie in Städten mit Namen wie Stormwind gefeiert haben. "Da war ich jemand", sagt er.

In der Therapie versuchen sie ihm beizubringen, dass er immer noch jemand ist. Doch das, sagt Bert te Wildt, ist bei Online-Süchtigen nicht leicht. "Betroffen sind meist junge Männer, die auf dem Weg ins Erwachsenenleben gescheitert sind", erklärt er. "Aber im Internet können sie den Helden markieren." Der Psychiater ist ein großer, eleganter Mann mit einem großen, eleganten Büro; der Gegenentwurf zu den Menschen, deren Krankheit er schon lange erforscht.

Vielleicht faszinieren sie ihn deshalb so, dass ihn anfangs nicht mal die Kritik von Kollegen abschreckte: Onlinesucht sei keine Krankheit, sagten die, sondern nur eine Ausprägung von Grundstörungen wie Depressionen, Zwängen, Ängsten.

Symptome ähneln anderen Süchten

Te Wildt ficht das nicht an: Auch die meisten anderen nichtstofflichen Abhängigkeiten wie Kaufsucht oder Sexsucht seien im Katalog psychiatrischer Krankheiten nicht anerkannt, dennoch würden Tausende deshalb behandelt. "Online-Sucht ist vermutlich heute schon die häufigste Verhaltenssucht", sagt er, "und das, obwohl wir erst am Anfang der digitalen Revolution stehen".

Die Symptome ähnelten denen jeder Sucht: Handeln und Denken drehen sich nur noch um das Internet. Ist der Süchtige zu lange offline, hat er Entzugserscheinungen. Das soziale Umfeld zerfällt. Für David hörte es irgendwann auf zu existieren.

Zuerst ließ er noch seinen zweijährigen Neffen zuschauen, wie er auf einem Drachen durch seine Welt flog. "Aber meine Schwester war dagegen", sagt er, sie verstand ihn nicht, keiner verstand ihn. Er verstand auch keinen. In dem Lager, in dem er zwei Tage lang jobbte, wurde ihm mittags sein Getränk geklaut. Er schmiss hin.

Was war zuerst da?

Im Callcenter sollte er nach einer Woche einem Kollegen beim Umzug helfen. Er verlor die Adresse. "Danach hab ich mich nicht mehr ins Büro getraut", sagt er.

Von da an war Schluss mit Ausflügen ans Tageslicht. Fünf Jahre lang kam David nur noch abends raus, um aus der Küche Nutellabrote und Cornflakes zu holen. "Duschen war egal", sagt er. "Die, mit denen ich Kontakt hatte, haben das nicht mitgekriegt." Die sahen nur, dass er es bis Level 85 schaffte.

Wer die Studie der Drogenbeauftragten liest, sieht aber, dass nicht nur Online-Spiele hohes Suchtpotential haben. Vor allem Mädchen verlieren sich oft in den scheinbar harmloseren sozialen Netzwerken. Aber Teenagern das Internet ganz verbieten? Te Wildt winkt ab. Es gehe nicht um ein paar vergammelte Nachmittage. "Es geht um Menschen, die verlernt oder nie gelernt haben, sich anders mit der Welt auseinanderzusetzen als im Kampf mit Drachen oder im Verteilen von Facebook-Daumen". Was aber war zuerst da, die Vereinsamung oder der Rückzug ins Internet, die Depression oder die Sucht?

Zwei Jahre und drei Rückfälle

In Davids Fall ließ sich das gar nicht mehr genau sagen. Er war fort, seine Welt den Eltern fremd, seine Tür von innen verriegelt, seine Gefühle erschöpft in Traurigkeit und der hoffnungslosen Liebe zu einem weiblichen Avatar. Mit dieser Frau zusammenleben, zusammen spielen, das war sein Traum.

Das echte Leben zerschlug ihn: Erst kam heraus, dass hinter der virtuellen Frau ein realer Mann steckte. Dann sperrte die Bank Davids Konto, er versank in Schulden und konnte die 12,99 Euro nicht mehr zahlen, die das Spiel im Monat kostete. Ein Mal wollten ihm seine Eltern noch helfen, sagten sie: Wenn er eine Therapie begänne.

Zwei Jahre und drei Rückfälle ist das her, David spielt momentan nicht mehr. Aber sein Leben bleibt ein Kampf, gegen die Versuchung, tagelang ziellos im Netz zu surfen, gegen die kaputten Nerven in seinem rechten Arm, gegen seine Unsicherheit, seine Einsamkeit.

"Wenn das Spiel weg ist, bin ich auch weg"

Manchmal verbringt er Zeit mit seiner Familie, ganz selten mit Freunden, mit welchen auch. Der Therapeut hat ihm geraten, rauszugehen, spazieren, in die Natur. David wirft einen leeren Blick aus dem Fenster, wo der Herbst leuchtet und kreiselnde Blätter durch die Welt fliegen, die ihm so fremd ist.

"Früher dachte ich, wenn das Spiel weg ist, bin ich auch weg", sagt er. Es ist anders gekommen: Mit dem Spiel ist sein Leben verschwunden. Nur er ist noch da.

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