Neues Buch von Internet-Skeptiker Jaron Lanier:Ketzer der digitalen Heilslehre

Einst träumte er davon, mit einem virtuellen Hammer Krebstumore zu zertrümmern: Jaron Lanier, Wunderkind und Rockstar des Internets. In seinem neuen Buch "Wem gehört die Zukunft?" blickt er in die Seele der Digitalkultur, die sich vor Selbstzweifel und Schuldbewusstsein windet.

Von Andrian Kreye

In den Urzeiten der digitalen Kultur vor rund dreißig Jahren war der Computerwissenschaftler Jaron Lanier der erste Rockstar dieser neuen Ära. Mit seinen Dreadlocks und seiner Leibesfülle war er von Natur aus eine imposante Erscheinung. Weil er aber schon sehr früh äußerst kluge Gedanken und Visionen zur Kultur des Digitalen entwickelte, weil er diese Visionen in den Atari Labs, bei Silicon Graphics und an der New Yorker Columbia University auch umsetzte, weil er avantgardistische Musik auf selbstgebauten Instrumenten komponierte und im Wanderzirkus der Ted-, Aspen- und Davos-Konferenzen immer einer der überzeugendsten Redner war, zählen seine Bücher seit je zu den wichtigsten Veröffentlichungen über das Wesen des Digitalen und seine Auswirkungen. Wenn er nun also mit seinem neuen Buch die Frage stellt: "Wem gehört die Zukunft?", dann sollte man ihm zuhören.

Will man Laniers 480 Seiten lange Antwort auf einen Satz reduzieren, so lautet dieser: Uns nicht! "Uns" heißt in diesem Fall: Alle Internetnutzer weltweit, die keinen digitalen Konzern besitzen und keinen Geheimdienst, also keine jener Institutionen, die das Leben aller digital vernetzten Menschen in Datensätze verpacken, um daraus - also aus uns - Profit zu schlagen, uns zu beobachten, zu kontrollieren, auszubeuten. Und wenn mit "uns" das mittelständische Bürgertum gemeint ist, dann langfristig auch noch, um uns zu ruinieren.

Nein, besonders optimistisch ist Jaron Lanier nicht. Und weil er eben ist, wer er ist, und seine Antwort besonders schwer wiegt, markiert sein jüngstes Buch eine Zäsur, die sich seit dem letzten Jahr anbahnt. Seit es endgültig zur Binsenweisheit geworden ist, dass die großen Internetkonzerne wie Google, Facebook und Amazon auf sinistre Weise Geld mit uns verdienen. Und seit Edward Snowden mit seinen NSA-Enthüllungen so ziemlich alle Verschwörungstheorien über das Internet als globale Überwachungsmaschine bestätigte.

2013: das Schlüsseljahr der Desillusionierung

Das Buch steht aber auch exemplarisch für die generelle Enttäuschung über einen ideologischen Irrweg, den die digitale Kultur sehr früh eingeschlagen hat. Deswegen schmerzt sie ja auch so, die Desillusionierung des Jahres 2013, das Lanier als Schlüsseljahr identifiziert.

In den Achtzigerjahren trat Jaron Lanier in der Bay Area rund um San Francisco oft gemeinsam mit dem LSD-Propheten Timothy Leary auf. Die beiden predigten eine neue Technologie, für die Lanier das Schlagwort geprägt hatte: Virtual Reality. Der Schulterschluss mit einem der wichtigsten Intellektuellen der Hippie-Ära war kein Zufall. Was sich damals an den amerikanischen Informatik-Fakultäten und in den Laboren formierte, war eine Gegenkultur, die bis heute ähnlich viel bewegt, wie die Gegenkulturen der Sechzigerjahre.

Leary fungierte als Brückenfigur zwischen den Zeitaltern. Lanier war das Wunderkind, das er stolz präsentierte. Der hatte in den Atari Labs eine Methode mitentwickelt, mit der man damals noch recht buchstäblich in den Cyberspace reisen konnte. Dazu setzte man einen Datenhelm auf, der schlichte Grafiken auf eine Brille und Klänge auf die Kopfhörer spielte. Mit Hilfe eines Datenhandschuhs konnte man in den Vektorwelten der virtuellen Realität auch noch eine Art sichtbare Hand bewegen und das Sichtfeld verändern.

Die Virtual Reality wurde zum Anachronismus

Leary und Lanier konstruierten eine ganze Heilslehre um diese Technologie. Leary schwärmte von den psychedelischen Wirkungen dieser künstlichen Welt. Lanier träumte von wahren Wundern. Krebs sollte man mit diesen Datenhelmen einmal bekämpfen können, wenn die Patienten mit dem Datenhandschuh einen virtuellen Hammer greifen und in ihrem eigenen tiefsten Inneren den Tumor zerschlagen.

Die Virtual Reality wurde schon bald zum Anachronismus. Doch die Euphorie der Techno-Utopien hielt an. Was an Hoffnung verloren ging, kann man aus dem ersten Teil von "Wem gehört die Zukunft?" herauslesen. Von der radikalen Demokratisierung der Bildung über eine neue Transparenz der Politik bis hin zur digitalen Innovation als Wirtschaftsmotor - alles perdu, zwischen Silicon Valley und den Vororten von Washington DC ins Gegenteil pervertiert. Das Opfer - der Mittelstand.

Mit dieser Analyse folgt Lanier ökonomischem Allgemeinwissen. Demnach gibt es zwei Arten der Innovation. Die eine schafft neue Arbeitsplätze und steigert den Lebensstandard aller. Die andere vernichtet Arbeitsplätze und schafft Reichtum für wenige. Mit dem großen historischen Bogen kann man behaupten, dass dank der Innovationen durch Industrialisierung wie durch Elektrifizierung Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden konnten und das Leben fast aller Menschen leichter wurde.

Die digitale Revolution, ein sozioökonomischer Tsunami

Die digitale Revolution hat den Mittelstand der Industrienationen wie ein sozioökonomischer Tsunami getroffen. Lanier führt da ein treffendes Beispiel an. Die Firma Kodak, so schreibt er, beschäftigte am Höhepunkt ihres Erfolges weltweit über 140 000 Mitarbeiter und hatte einen Wert von 28 Milliarden Dollar. Kodak erfand aber auch die digitale Fotografie. Und deren Standard ist nun die Firma Instagram. Diese wurde 2012 für eine Milliarde Dollar an Facebook verkauft und beschäftigte damals lediglich 13 Mitarbeiter.

Der Schmetterlingseffekt eines solchen Strukturwandels, der Hunderttausenden Mittelständlern den Job kostet, weil mit Kodak ja auch die Berufsstände der Fotolaboranten und Fotografen weitgehend verschwanden, ist enorm. Es sind jedoch nicht nur die Medienberufe, die der Strukturwandel gefährdet, es sind inzwischen auch Rechtsanwälte, Ärzte und Lehrer, die Konkurrenz durch die neuen Technologien bekamen. Lanier denkt hier auch die aktuellen technologischen Entwicklungen weiter, die künstliche Intelligenz, das selbstfahrende Auto und den 3-D-Drucker etwa. Auch hier sieht er - vom Lastwagenfahrer bis zum Modeschöpfer - den gesamten Mittelstand in Gefahr.

Wie, fragt er dann, "können wir verhindern, dass das Internet zum Herrschaftsinstrument wird, das einigen wenigen die Macht gibt, Milliarden von Menschen auszubeuten?" Sein Lösungsvorschlag ist unter anderem der Aufbau eines Vergütungssystems, das die Profite des Internets an all jene verteilt, die mit ihren Daten zum Kapital der digitalen Wirtschaft beitragen. Es wäre ja durchaus auch denkbar, dass Facebook seine Nutzer für jeden Eintrag, jedes Foto entlohnt. Doch hier gerät Laniers brillante Analyse einmal mehr zur Utopie. Warum sollten sich Konzerne wie Facebook, Google und Amazon auf ein quasi sozialistisches Wirtschaftssystem einlassen, das auf klassischer Umverteilung beruht?

Die Vision von der Umverteilung ist mehr als weltfremd

Nun war es Lanier selbst, der die unguten Aspekte der Schwarmintelligenz im Netz mit dem Begriff "Digitaler Maoismus" geißelte und sie mit den Schlägerbanden der chinesischen Kulturrevolution verglich. Seine Analyse von der digitalen Wirtschaft als destruktivem Monopolkapitalismus mag korrekt sein. Die Vision von der Umverteilung ist mehr als weltfremd.

Und trotzdem - will man in Deutschland nur drei Bücher der Internetkritik lesen, wäre Laniers "Wem gehört die Zukunft?" nicht lediglich eines aus diesem Trio. Es ist das wichtigste. Gerade weil er aus einer ganz anderen Tradition kommt als seine internetkritischen Zeitgenossen. Frank Schirrmacher leitete sein "Payback" über den Umweg der Neurologie noch aus dem klassischen europäischen Kulturpessimismus ab. Sein Buch und die netzkritischen Essays, denen er auf den Seiten seines Feuilletons in der FAZ ein Forum gibt, gehören zum intelligentesten und intellektuell interessantesten, was die Netzdebatte zu bieten hat.

Die Seele der digitalen Kultur windet sich vor Selbstzweifel

Evgeny Morozov bezieht sich wiederum auf die klassische Ideologiekritik. Mit seinem biografischen Hintergrund im autokratischen Weißrussland, seinen Studien an den besten Unis Amerikas und seinem Zugang zum Silicon Valley stellte der Autor von "Net Delusion" und "Smarte neue Welt" bereits die Machtfrage, als die Mehrheit der Netznutzer noch an die demokratisierende Wirkung des Internets glaubte.

Jaron Lanier aber ist der Ketzer, der Apostat, der sich von der Heilslehre abwendet, die er selbst mitgeschaffen hat. Egal wie utopisch seine Schlüsse aus den Analysen sind, mit Lanier bekommt man einen Einblick in die Seele der digitalen Kultur, die sich gerade vor Selbstzweifel und Schuldbewusstsein windet. Was bleibt, ist ja in jedem Fall: Es lohnt sich, das Internet zu retten. Um beim Bild vom Rockstar zu bleiben - es wird Zeit, dass die satten Stars vom Punk abgelöst werden. Julian Assange, Jacob Appelbaum und Edward Snowden haben den Anfang schon gemacht.

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