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Netzpolitik nach Sopa-Protesten:Die Angst der US-Abgeordneten vor dem Internet

Im Januar stoppten Netzaktivisten das Anti-Piraterie-Gesetz Sopa und demonstrierten damit amerikanischen Politikern ihre Macht. Jetzt, Monate später, spielt das Thema Urheberrecht im Kongress keine Rolle mehr. Die Aktivisten kämpfen aber schon gegen den nächsten Geheimvertrag der Regierung. Sie befürchten, es könne noch schlimmer als Acta werden.

Matthias Kolb, Washington

Ein breiteres Grinsen ist kaum vorstellbar. "Es gibt viele Leute hier auf dem Capitol Hill, die glauben, dass wir an der Unterseite unseres Tisches einen kleinen Knopf haben. Sobald wir den drücken, legen die Aktivisten los und lösen einen Proteststurm aus", sagt der Mitarbeiter eines einflussreichen demokratischen Senators. Er lasse die anderen Abgeordneten gern in diesem Glauben, um beim nächsten Kampf um die Freiheit des Internets möglichst viel Einfluss zu behalten. Doch zurzeit, so berichtet der auf Anonymität bestehende Helfer, gebe es kaum Interesse in Washington, sich erneut mit dem Thema Urheberrecht zu beschäftigen.

Im Januar hatte der Protest der Netzgemeinde dazu geführt, dass der Stop Online Piracy Act (Sopa) im Repräsentantenhaus und der ähnliche Protect IP Act (Pipa) im Senat scheiterten. Die Gesetze hätten laut Kritikern US-amerikanischen Urheberrechtsinhabern ermöglicht, die illegale Verbreitung ihrer Inhalte im Internet zu unterbinden.

Die Mehrheit der Abgeordneten beider Parteien, so der Senatoren-Mitarbeiter, habe wenig Ahnung gehabt und sei vom Protest völlig überrascht worden. Die Internet-Kenntnisse hätten sich seither nicht verbessert, aber viele Politiker treibe die Sorge um, in einen Online-Orkan zu geraten. Unter Washingtoner Polit-Strategen macht der Begriff "to get sopa-ed" die Runde - und viele sind überzeugt, dass Google bessere Lobbyisten angeheuert habe als Time Warner, Sony, CBS oder die US-Handelskammer.

Dass an dieser Sicht wenig dran ist, erfuhr eine Gruppe deutscher Netzaktivisten, Politiker, Akademiker und Journalisten, die auf Einladung der den Grünen nahe stehenden Heinrich-Böll-Stiftung Ende Juli Gespräche in Washington, San Francisco und Boston führte. Egal ob im Silicon Valley, beim MIT Media Lab oder am Berkman Center der Harvard Law School: Überall ist man sich einig, dass der Sopa-Protest eine "historische Wegscheide" darstellt.

Zensur statt Urhebrrecht im Mittelpunkt der Debatte

Der Harvard-Jurist Yochai Benkler hat untersucht, wie sich der Diskurs entwickelt hat, nachdem im Oktober 2010 erstmals auf Websites wie Techdirt oder Techcrunch über Sopa berichtet wurde. Ein Jahr später änderten sich demnach die Begrifflichkeiten - in der Debatte ging es nicht mehr nur um Urheberrecht, sondern um Zensur. Benkler ist überzeugt, dass diese Verlagerung dazu führte, dass sich Millionen Menschen angesprochen fühlten (sein ebenso unterhaltsamer wie lehrreicher Vortrag bei Youtube).

Benklers Forschung zeigt, wie wichtig die Rolle von Wikipedia bei den Protesten war. Von November an dient die Online-Enzyklopädie vor allem als Informationsquelle über Sopa, doch mit der medienwirksamen Entscheidung, die englischsprachige Website am 18. Januar per Blackout für einen Tag zu sperren, wurde die Wikimedia Foundation zum Akteur.

Im Hauptquartier in San Francisco erinnert sich Wikipedia-Chefjurist Geoff Brigham gern an den Jahresanfang zurück. Er macht jedoch klar, dass sich die Stiftung in künftigen Fällen danach richten werde, was die Community denke: "Bei Sopa war die Mehrheit dafür, die Site abzuschalten. Wir werden diese Diskussion auch in Zukunft führen, auch wenn der Entscheidungsprozess mehr mit Kunst als mit Wissenschaft zu tun hat." So lehnte es die Wikipedia-Gemeinschaft ab, der Internet Defense League beizutreten - anders als etwa die ebenfalls gemeinnützige Mozilla-Stiftung.

Auch wenn die Aktivisten weiterhin stolz darauf sind, dass Sopa und Pipa verhindert werden konnte, sind sich alle bewusst, dass ihr Engagement auch in Zukunft nötiger denn je sein wird. Dass das Europaparlament das umstrittene Urheberrechtsgesetz Acta hat durchfallen lassen, wurde auch in Nordamerika bejubelt. "Dies war ein wichtiger Schritt, den er zeigt allen Amerikanern, dass Acta gestoppt werden kann und sich der Einsatz lohnt", sagt Carolina Rossini von der Online-Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation.

Wie unterschiedlich die Sicht auf Datenschutz und Regulierung auf beiden Seiten des Atlantiks ist, wurde vor allem in der Hauptstadt Washington deutlich. Während in Europa und Deutschland Datenschutzgesetze vor allem das Ziel haben, die Rechte der Bürger im Verhältnis zu Unternehmen zu regeln, wollen die freiheitsliebenden Amerikaner vor allem verhindern, dass der Staat beziehungsweise die Regierung zu viel Zugriff auf persönliche Informationen bekommt.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht mehr ganz so stark, wenn etwa Vertreter des Verbraucherschutzbehörde Federal Trade Commission (FTC) von Selbstregulierung schwärmen. Man arbeite eng mit den Firmen zusammen, berate etwa Entwickler im Silicon Valley, damit diese beispielsweise bei der Entwicklung von Apps alle Gesetze einhalten. Zudem überwache man die Selbstverpflichtungen der Firmen.

Viele sehen Selbstregulierung als Lösung

Mit dem typisch amerikanischen Pragmatismus reagiert man bei der FTC auf europäische Bedenken: "Bei uns gibt es das Sprichwort 'There is no free lunch.' Wem die Angebote von Google oder Facebook gefallen, weil sie praktisch oder cool sind, der muss eben mit Daten zahlen." Im Klartext: Niemand zwingt die Nutzer, sich bei sozialen Netzwerken oder Youtube zu registrieren - es gelte stets das Prinzip take it or leave it.

Ähnlich denkt Daniel Weitzner, ein freundlicher Glatzkopf mit einem Faible für bunte Fliegen. Weitzner kümmert sich im Weißen Haus als Deputy Chief Technology Officer um Internet-Politik und warb bei einer Diskussion der New America Foundation ebenfalls für Selbstregulierung.

Offen gibt Weitzner zu, dass "uns niemand zuhören muss". Er setze jedoch auf einen fruchtbaren Dialog mit den Internet- und High-Tech-Firmen im Silicon Valley. Die sind in einer komfortablen Situation: In Zeiten von gut acht Prozent Arbeitslosigkeit und schwächelnder US-Wirtschaft sorgen Google, Facebook, Apple, HP und Co. für Erfolgsgeschichten und das uramerikanische Gefühl, weltweit führend zu sein.

Immer wieder ist in Washington zu hören: Kein Republikaner wird es wagen, für eine Regulierung dieser Boom-Branche zu stimmen und so etwaiges Wachstum zu gefährden - und auch nur wenige Demokraten stellen die Internetfreiheit über das Geschäft. Sascha Meinrath von der New America Foundation vergleicht die Situation mit der inneramerikanischen Debatte zum Klimaschutz: "Es gibt genug Faktenwissen, aber zu wenig Führung in der Politik. Kaum ein Abgeordneter ist bereit, sich in dieses Themenfeld einzuarbeiten und Position zu beziehen."

Diesen Hintergrund kennt auch Carolina Rossini, die im EFF-Hauptquartier in San Francisco für international intellectual property zuständig ist. Neben der Sorge, dass Regelungen von Acta im Rahmen eines neuen Abkommens namens Ceta (Comprehensive Economic and Trade Agreement) durch die Hintertür eingeführt werden, treiben die Brasilianerin vor allem drei Buchstaben um: TPP.

Die Abkürzung steht für Trans-Pacific Partnership Agreement und gilt vielen Aktivisten als eine Art "Acta Plus". Rossini kennt die Hintergründe: Ursprünglich war das Handelsabkommen der Pazifikregion gestartet worden, damit kleine Länder gemeinsam dem Druck Chinas etwas entgegensetzen können. Mittlerweile beteiligen sich aber auch Staaten wie USA und Kanada sowie aus Mittel- und Lateinamerika an den Verhandlungen - und plötzlich stehe "geistiges Eigentum" auf der Agenda, wofür sich unter anderem die Pharmabranche einsetzt.

Das Gefährliche in den Augen der EFF-Aktivistin: Viele Länder werden diesen Änderungen zustimmen, weil sie sonst keinen Zugang zu Märkten bekommen und Handel erschwert wird. Rossinis Beispiel für dieses Horrorszenario: "Peru will Zugang zum Mineralien-Markt - und im Gegenzug muss die Regierung in Lima Gesetze zu geistigem Eigentum und Urheberrecht ändern."

Es gelte nun, die Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass wichtige Online-Freiheitsrechte auf dem Spiel stehen und erneut ein Abkommen in absoluter Geheimhaltung verhandelt werde - eine Tatsache, die den Protest gegen Sopa, Pipa und Acta stets befeuert hat. "Offensichtlich hat die US-Regierung nicht aus den Fehlern gelernt", so Rossini.

Es gibt Abgeordnete, die sich für Internetfreiheit einsetzen

Allerdings gibt es auf dem Capitol Hill doch noch einige Abgeordnete und Senatoren, die sich für Internet-Freiheit einsetzen und nicht von der Regierung übergangen werden wollen. Der demokratische Senator Ron Wyden aus Oregon legte im März eine Gesetzesänderungsinitiative vor, mit der eine Zustimmung von Repräsentantenhaus und Senat zu internationalen Handelsabkommen notwendig machen würde, wenn diese die Durchsetzung von Urheberrechten regeln.

Wer weiß: Wenn die US-Regierung bei ihrer kompromisslosen Haltung bleibt, dann könnte irgendwann wieder ein Proteststurm aus dem Internet über den Washingtoner Capitol Hill blasen - und dafür sorgen, dass auch die Abkürzung TPP lange in Erinnerung bleiben wird.

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