Süddeutsche Zeitung

Netzneutralität in den USA:Gedrosselt, aber nicht tot

  • Die Netzneutralität ist in den USA seit einigen Monaten abgeschafft, doch Gerichte könnten die Entscheidung kippen.
  • Dass die Provider bestimmte Dienste blocken, können Kunden kaum nachweisen.
  • Mehrere US-Bundesstaaten haben eigene Gesetze zur Netzneutralität auf den Weg gebracht.

Von Johannes Kuhn, Austin

Niemals stirbt man so ganz. Das gilt zumindest für die Netzneutralität in den USA. 2017 entschied die Telekommunikationsbehörde FCC (Federal Communications Commission), den Internet-Providern bei der Durchleitung des Datenverkehrs freie Hand zu lassen. Verfechter der Netzneutralität warnten, die Telekom-Unternehmen würden nun ein Zwei-Klassen-Netz schaffen, das nur derjenige voll nutzen könne, der am meisten zahle. Seit acht Monaten gelten die neuen Regeln. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

Seit wenigen Tagen verhandelt ein Bundesberufungsgericht in Washington D.C. die Frage, ob die FCC den Schritt gut genug begründet hat. Unabhängig vom im Frühsommer erwarteten Urteil könnte der Fall vor den Supreme Court wandern. Und in Washington richten sich die Blicke bereits auf die Präsidentschaftswahl 2020. Ein demokratischer Amtsinhaber könnte die FCC wieder so besetzen, dass die Netzneutralität wieder gilt.

Kunden haben unterdessen ein Problem: Sie können nicht zweifelsfrei herausfinden, ob und warum ihr Anbieter bestimmte Dienste drosselt. "Wenn dein Netflix langsam ist: Wie wahrscheinlich ist es, dass du unterscheiden kannst, ob das Problem bei Netflix, deinem Internet-Anbieter oder an deiner Technik daheim liegt", skizziert die US-Medienwissenschaftlerin Amanda Lotz die Situation.

Die FCC hatte angekündigt, die Provider zur Transparenz zu verpflichten. In der Praxis müssen sie ein Dokument mit Datenverkehr-Leitlinien online stellen, das im Stil Allgemeiner Geschäftsbedingungen gehalten ist. Logischerweise behalten sich die Provider dabei stets "Traffic-Limitierung" vor. Ob sie die allerdings nutzen, um Botnetze zu stoppen oder eine Horde exzessiver Youtube-Gucker, wissen nur die Firmen selbst.

Langsamere Geschwindigkeiten

Deutliche Indizien für Eingriffe hat jetzt eine Forschungsgruppe der University of Massachusetts Amherst gefunden, die seit 2014 den Netzwerk-Verkehr untersucht. Sie greift dabei inzwischen auf die Hilfe von 100 000 Menschen zurück, die seit Anfang 2018 mit der App "Wehe" selber Messdaten über Video-, Audio- und Voice-over-IP-Dienste sammeln.

Das Prinzip: Das System vergleicht die Geschwindigkeit des Datenverkehrs. Einmal versendet es die Datenpakete mit identifizierenden Informationen wie der Youtube-Serveradresse Googlevideo.com, dann als Datensalat. Wenn ein Provider alle Daten gleich behandelt, sollte sich die Geschwindigkeit nicht signifikant unterscheiden.

Seit im vergangenen Sommer die Netzneutralität fiel, beobachten die Forscher eine Entwicklung: "In den USA hat fast jeder Mobilfunkanbieter eine bestimmte Art von Anwendung gedrosselt, und das ist Videostreaming", sagt David Choffnes, der die Studie zum Projekt verfasst hat. Der Provider Sprint verlangsamte laut Messungen auch den Videotelefonie-Dienst Skype. Zum Vergleich: Bei Nutzern in Frankreich ergaben die Wehe-Messungen keine Besonderheiten.

Regionale Initiativen und reger Lobbyismus

Auf eine Anfrage von drei demokratischen Senatoren rechtfertigten sich die Anbieter damit, alle Videodienste gleichermaßen zu "optimieren". Sie würden nur nach Bandbreite-Verfügbarkeit agieren.

Zudem argumentieren sie, dass eine schlüssige Analyse auch die Mobilfunkverträge der Betroffenen einbeziehen müsste: So könnte die Drosselung auch ausgelöst worden sein, indem ein Kunde sein Datenvolumen überschritten habe.

Gegen einen allgemeinen "Datenstau" spreche, dass die reduzierten Geschwindigkeiten zu verschiedensten Tag- und Nachtzeiten gemessen wurden, entgegnet Choffnes. Zudem seien eben nicht alle Videodienste betroffen gewesen, wie es bei einer Volumen-Drosselung zu vermuten wäre.

"Sie haben die Kunden und die Netzwerke verantwortlich gemacht ... alle, nur nicht sich selbst", kritisierte US-Senator Ed Makes (Massachusetts) in einer Erklärung die Provider. Er hat gemeinsam mit seinen beiden Kollegen die FCC zu einer Untersuchung aufgefordert. Die ist allerdings unter ihrer von Präsident Donald Trump ernannten Spitze sehr branchenfreundlich.

20 US-Bundesstaaten unterstützen die Klage gegen die Abschaffung der Netzneutralität. Insgesamt 30 haben sogar Initiativen eingeleitet, mit denen sie eigene Regeln schaffen wollen.

Das als Vorzeigeprojekt geltende Netzneutralitätsgesetz in Kalifornien zeigt Konflikte und Grenzen einer solchen Initiative: Aus dem Gesetzestext verschwand das Verbot von "Zero Rating", also der Nutzung ausgewählter Anwendungen wie Spotify oder Netflix ohne Anrechnung auf das Datenvolumen. Jene Dienste können sich somit einen privilegierten Zugang zum Kunden erkaufen.

Das Justizministerium klagt innerhalb von Minuten

Um das Gesetz abzuschwächen, hatte die Telekombranche, die auch in Kalifornien zu den wichtigen Politik-Spendern gehört, mehrere Dutzend Lobbyisten aktiviert und die Politiker auch mit Social-Media-Kampagnen unter Druck gesetzt. Senioren erhielten Berichten zufolge automatische Anrufe, in denen ihnen für den Fall einer Verabschiedung höhere Rechnungen prophezeit wurden.

Als der damalige Gouverneur das mildere Gesetz im Oktober dann schließlich unterschrieb, ging wenige Minuten später die Klage des US-Justizministeriums ein, das die Bundesstaaten für nicht zuständig erklärt. Wegen der unsicheren Rechtslage bleibt die Netzneutralität in Kalifornien vorerst außer Kraft.

In Deutschland hat die Telekom wegen ihres Angebots "Stream On" Ärger mit der Bundesnetzagentur. Aber so umstritten wie in Europa waren Angebote wie "Zero Rating" in den USA ohnehin nie: Bereits die gekippten Netzneutralitätsregeln der Obama-Ära hatten die Praxis nur unter Prüfungsvorbehalt im Einzelfall gestellt. Auch die Tarife, bei denen Mobilfunk-Kunden für zusätzliches Geld garantiert HD-Videos ausgeliefert erhalten, wurden schon vor der Trump-Ära eingeführt und nicht als Verstoß gegen die Netzneutralität gewertet.

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