Nachrichten aus Krisengebieten:Wittern und Twittern

Mithilfe des Internet-Kurznachrichtendienstes Twitter informieren Augenzeugen schnell und direkt aus Krisengebieten. Entsteht so eine neue Nachrichtenkultur?

Niklas Hofmann

Um Vinukumar Ranganathan kommt niemand herum, der die Rolle der Mikroblogger bei den Anschlägen von Mumbai beschreiben will. Vinu, wie er sich im Internet nennt, ist Manager einer IT-Firma in der indischen Wirtschaftsmetropole. "Ich höre Schüsse", schrieb Vinu am vergangenen Mittwoch auf seiner Seite beim Internet-Kurznachrichtendienst twitter.com.

Nachrichten aus Krisengebieten: Twitter: mit 140 Zeichen knapper als eine SMS

Twitter: mit 140 Zeichen knapper als eine SMS

(Foto: Screenshot: sueddeutsche.de)

Dann rannte er mit einer Kamera auf die Straße. Über Stunden informierte er die Nutzer der Seite mit seinem Mobiltelefon via SMS über das, was er auf den Straßen sah. Bilder, die er von der chaotischen Lage machte, stellte er bei der Foto-Community Flickr.com online. Und er war nicht der einzige.

Ein Gewitter von Twitter-Alarmen ging über dem Netz nieder. Zeitweise erschien pro Sekunde mehr als eine Meldung mit dem Schlagwort "Mumbai" auf der Seite des Dienstes. Viele waren als Augenzeugen vor Ort und berichteten schneller als jedes klassische Medium aus erster Hand.

Falschmeldung in Umlauf

Die chassidischen Juden in New York, deren Rabbiner in Mumbai als Geisel genommen und später ermordet wurde, nutzten Twitter, um möglichst keine Information aus Indien zu verpassen. Viele schrieben aber auch nur ab, was sie im Fernsehen sahen, im Rundfunk hörten, im Internet lasen. Und brachten dabei manche Falschmeldung in Umlauf. Dazu gehörte ironischerweise wohl auch die Nachricht, die indische Regierung habe die Twitter-Betreiber darum gebeten, den Suchbegriff "Mumbai" zu sperren. Zu viele hätten Details der Polizeioperationen gemeldet und diese dadurch gefährdet.

Der Name "Twitter" hat seinen Ursprung im englischen Verb "to tweet", zwitschern. Spontan und mit 140 Zeichen sogar knapper als eine SMS sind die Mikro-Blog-Einträge, so genannte "Tweets". Aber sie erreichen mindestens so viele Leser wie ein Weblog. Vom internetfähigen Handy lassen sie sich auch unterwegs bequem und mit Sekundenaufwand erstellen. In den zwei Jahren seines Bestehens ist Twitter so einerseits ein gigantischer Pausenhof geworden, auf dem Jugendliche aller Altersstufen die Welt über ihr Mittagessen und ihre Fernsehgewohnheiten auf dem Laufenden halten.

Wittern und Twittern

Andererseits bietet der Dienst die Möglichkeit, große Gruppen von Menschen an voneinander entfernten Orten zeitgleich zu informieren und zu koordinieren. So nutzte Barack Obama den Dienst im Wahlkampf, um seine Anhänger zur jeweils nächsten Veranstaltung zu lotsen. Nach dem Erdbeben in Südwestchina im Mai wurden Informationen via Twitter verbreitet. In der thailändischen Hauptstadt Bangkok hielten sich die Bewohner in der vergangenen Woche auch per Twitter über die Besetzung des Flughafens auf dem Laufenden.

Nicht wenige wollen jetzt einen beispiellosen Umbruch der globalen Nachrichtenkultur erkennen. Der amerikanische Journalist Jeff Jarvis etwa freute sich am vergangenen Wochenende im Guardian: "Die Augenzeugen übernehmen die Nachrichten". Und der einflussreiche Technologie-Blogger Michael Arrington von TechCrunch nannte den Twitter-Stream seine bevorzugte Nachrichtenquelle. Zwar seien viele Meldungen völlig falsch, aber, das werde ja dann von anderen korrigiert.

Jeder Jurist kann allerdings erklären, wie wenig der Wahrheitsfindung gedient wäre, übernähmen die Zeugen die Strafprozesse. Auch krankt das Nachrichtenwesen in einer Zeit, in der eine "Breaking News" die nächste jagt, wohl eher nicht an seinem zu geringen Tempo. Dazu kommt, dass die Wirtschaftsmetropole Mumbai die Infrastruktur und die nötige kritische Masse an Twitterern hat. Auch können wir sicher sein, beim nächsten Terroranschlag, der nächsten Naturkatastrophe, die Tokio, Sao Paulo oder Paris trifft, von den Mikrobloggern schnellstens verständigt zu werden.

Überall dort also, von wo Nachrichten seit eh und je recht zuverlässig fließen, legt Twitter noch eine Schippe drauf. An den Orten jedoch, an denen die Welt tatsächlich ihre schwarzen Löcher besitzt, an den Orten, über die wir viel zu wenig erfahren, sieht es ganz anders aus. Aus den Kampfgebieten des Kongo, aus Darfur, Nordkorea oder Birma werden wohl auch in Zukunft selten Twitter-Alarme erklingen.

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