Reddit-Community:Trösten - oder trösten lassen

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Wer in Internet-Communities auf der Suche nach Anerkennung als Mutter ist, bekommt diese nur in digitaler Form.

(Foto: imago/Westend61)

In Communities wie Reddits "Mom for a minute" können Nutzer ihren Frust abladen, während andere ihre mütterlichen Instinkte ausleben. Während Corona ist das eigenwillige Forum noch erfolgreicher als zuvor.

Von Michael Moorstedt

Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist. So lautet die Unterzeile einer sehr bekannten Karikatur aus den 90er-Jahren, und trotz aller seit damals ausgesprochenen Forderungen technisch unbedarfter Politik-Hardliner, darf im Internet jeder noch immer sein, wer er will. Die Selbstbilder und angenommenen Identitäten sind fluide und häufiger als gedacht.

Das gestandene Mannsbild wird zum sensiblen Handarbeiter, der sich mit Glasgravur beschäftigt und stolz seine zarten Werke präsentiert, die fürsorgliche Yoga-Mutter zur "Querdenker"-Ideologin, die gegen die Eliten wettert und das System zum Teufel wünscht. Jemand, der gerne auf der Couch herumlümmelt und selten Hosen trägt, kann auf Instagram ein glamouröses Dasein widerspiegeln. Wenn sie sich dann wieder ausloggen, haben sie ein gutes Gefühl, können das sogenannte echte Leben wieder etwas leichter ertragen.

Die etwas seltsameren Ausuferungen dieses Wandels der Identitäten findet man wie so oft in den unzähligen Communitys von Reddit, die für so gut wie jeden Spleen, jede Unsicherheit und jede Lebensform eine sichere Anlaufstelle bieten, wo man auf Gleichgesinnte trifft. Eines der speziellsten dieser Foren nennt sich "Mom for a Minute". Hier sind die Menschen also auf der Suche nach einer kurzfristigen Mutter. Nach jemandem, der ihnen zuhört. Hier können sie ihren Frust loswerden, können über Dinge reden, die sie ihrer eigenen Mutter nie im Leben erzählen würden. So gut wie alle Einträge beginnen mit den Worten: "Hi Mom." Die Pointe ist, dass die Mamas auf Reddit nicht zwingend Mütter oder gar Frauen zu sein haben. So gut wie jeder kann sich an aufbauenden Worten versuchen, egal ob es eine 20-jährige Studentin oder ein Handwerker in seinen 50ern ist. Die Nutzergemeinschaft entscheidet mit Klicks, ob man in der Mutterrolle überzeugend war oder nicht.

In normalen Zeiten erproben die Mitglieder hier ihr Coming-out oder erzählen von ihrer Angststörung

Mit der Mutter als Sehnsuchts-Archetyp ist es aber noch lange nicht getan. Genauso gibt es andere Foren, in denen die Nutzer ihre Sehnsucht nach dem coolen großen Bruder stillen, der tütteligen und liebenswürdigen Oma oder dem zwar etwas langweiligen, aber eben auch verlässlichen Großvater. Man mag es unsagbar traurig finden, dass solche Foren in unserer Gesellschaft überhaupt existieren. Genauso einfach ist es, das Verwandten-Rollenspiel als kollektive Neurose abzutun. Aber immerhin scheinen sie ein Bedürfnis zu bedienen.

Manche der Nutzer haben ihre Mutter schon früh verloren, bei anderen war sie ohnehin nie Teil des Lebens. Psychologen sind der Meinung, dass ein solcher Austausch trotz der Virtualität und der gespielten Natur der Interaktion einen kathartischen Effekt haben kann. "Mom for a Minute" ist zu gleichen Teilen Selbsthilfegruppe und Rollenspiel-Forum. Es ist außerdem enorm erfolgreich, beinahe 140 000 Menschen haben sich bereits angemeldet.

Die drei populärsten Einträge der letzten Woche: Eine junge Frau mit ihrem Universitätsdiplom, ein Neugeborenes, eine Stickarbeit. Es ist eigentlich vollkommen egal, worum es konkret geht. Im Endeffekt sind die Nutzer auf der Suche nach Anerkennung und Bestätigung, nach dem Gefühl, gehört zu werden oder vielleicht auch nur nach dem Versprechen, dass hier jemand auf der anderen Seite sitzt, dessen Meinung über sie selbst noch nicht vorgefertigt ist.

In normalen Zeiten erproben die Mitglieder hier ihr Coming-out oder erzählen von ihrer Angststörung, sie nutzen das Forum als anonymen Beichtstuhl oder Kummerkasten. Während der Corona-Krise haben sich noch mehr Menschen angemeldet als ohnehin schon. Nach einem für alle Menschen schmerzhaften Jahr voller Verlust, konfrontiert mit der Aussicht, Weihnachten getrennt von der Familie zu verbringen, ist der Wunsch doch nachvollziehbar, wenigstens noch einmal gesagt zu bekommen, dass alles gut wird.

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