Mitmachnetz:Kiffen im Web 2.0

Die Masse macht's - oder doch nicht? Ein amerikanischer Forscher untersucht das Potenzial gemeinschaftlich produzierter Seiten wie Wikipedia oder YouTube.

Alex Rühle

Crowdsourcing, das klingt nicht zufällig so ähnlich wie Outsourcing. Zwei Redakteure des Internet-Magazins Wired prägten den Ausdruck im vergangenen Jahr. Sie wollten deutlich machen, wie sehr die Delegierung von Unternehmensaufgaben und -strukturen an eine Masse von "Freizeitarbeitern" des Web 2.0 der wirtschaftlich bedingten Auslagerung von Unternehmensteilen an Drittunternehmen gleicht. Internetseiten wie Wikipedia aber auch Softwareentwicklungen wie Linux oder Mozilla Firefox funktionieren rein über solches Crowdsourcing.

Mitmachnetz: Web 2.0 - die Weisheit eines herumgereichten Joints?

Web 2.0 - die Weisheit eines herumgereichten Joints?

(Foto: Foto: flickr.com)

Im vergangenen Jahr ist ein mit geradezu religiöser Inbrunst aufgeladener Streit über dieses Phänomen entbrannt. Auf der einen Seite stehen Apologeten der "Weisheit der Massen", wie der Finanzjournalist James Surowiecki ein Buch nannte, in dem er Beispiele für die These anführte, dass Gruppen oft schlauer sind als die Gescheitesten in ihrer Mitte.

Selbstherrliches Expertentum

Der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales überwölbt das Prinzip des Crowdsourcing gerne mit der politisch-gesellschaftlichen Vision, mit dem Web 2.0 könnten sich die Individuen von aller Macht und jedwedem selbstherrlichen Expertentum befreien.

Auf der anderen Seite stehen Autoren wie Jaron Lanier, der im vergangenen Jahr zum Generalangriff blies auf diese graswurzeldemokratische Internet-Utopie von der stetig wachsenden Gemeinde, deren Mitglieder gemeinsam an der Wissenskathedrale bauen. Für Lanier ist die vermeintliche Schwarmintelligenz nur eine trügerische "Wiederauferstehung der Idee, dass das Kollektiv unfehlbar" sei und dass man die vielen Stimmen nur zu bündeln brauche, damit daraus der Weltgeist tönt.

Das Gegenteil sei der Fall, so Lanier, mittels "Schwarmintelligenz" ließen sich nur statistische Zahlenwerte wie Wahlergebnisse feststellen, nicht aber Wissen generieren. Im Gegenteil, Systeme wie Wikipedia führten nur zu einem alles nivellierenden "digitalen Maoismus".

Kiffen im Web 2.0

Dank dem Journalistik-Professor Jay Rosen von der New York University (NYU) kann man nun schön sehen, dass auch in Zeiten von Web 2.0 die Wahrheit meist irgendwo in der Mitte liegt.

Rosen, der lange schon propagiert, die Presse müsse "interaktiver" werden, indem sie Open-Source-Strukturen einführt, hat in den vergangenen Monaten eine Plattform betrieben, die im Crowdsourcing-Verfahren genau dieses Verfahren selbst verhandeln sollte. "Wenn es einen neuen Trend gibt, dann kann man zwei oder drei Journalisten darauf ansetzen. Aber was passiert, wenn es 200 oder 300 Menschen sind?", fragte der Professor.

"New Assignment" heißt das NYU-Projekt, das nun seine Ergebnisse vorstellte. Die Seite http://zero.newassignment.net hat großartigen Werkstattcharakter, all die 80 darauf versammelten Texte versuchen, die Möglichkeiten, Stärken, Grenzen des Crowdsourcing abzutasten.

Die Mühen der Ebene

Der Autor und vormalige Netz-Idealist Rick Heller erzählt, was für grausame Dinge einige User seinem Roman "Smart Genes" antaten, nachdem er diesen ins Netz gestellt hatte, darauf hoffend, dass eine bibliophile Gemeinschaft gemeinsam daran arbeiten werde. Die Kapitel wurden zerhackt, Teile gelöscht, am Ende nahm er den verbliebenen, geschundenen Textrest wieder vom Netz. Umgekehrt erzählt McKenzie Wark, wie er im permanenten Austausch mit hunderten von Gamern ein Buch über Videospiele und -charaktere schrieb.

Die neuseeländische Filmemacherin Michelle Hughes erzählt von ihrem Projekt Stray Cinema, 70 Minuten Rohmaterial, das sie in London gedreht hat und zur weiteren Bearbeitung zur Verfügung stellt. Eine Bloggerin beschreibt die Mühen der Ebene als Crowdsourcing-Journalistin: "Ich möchte Neues erzählen, nicht PR. Ich möchte die Geschichten recherchieren, die eine zahme Lokalpresse links liegen lässt, aber ich weiß, dass ich nichts erreiche, wenn ich das im Alleingang probiere."

Und James Surowiecki differenziert den plakativen Titel seines Buches "Weisheit der Massen": Natürlich liege im kollektiven digitalen Journalismus die Lösung. Allerdings brauche eine Gruppe Meinungsvielfalt, unabhängige, spezialisierte Mitglieder sowie einen Mechanismus, der die Meinungen bündelt.

Die Kraft der Plattform

Rosen selbst sieht seine Plattform und die bisherigen Texte nur als Anfang. In den kommenden Wochen will er NewAssignment.net verlinken mit einer Seite der Star-Bloggerin Ariana Huffington, die hofft, den US-Wahlkampf im kommenden Jahr durch ein engmaschiges Netz lokaler Reporter kritisch begleiten zu können.

Huffington freilich schwärmt vorab schon in etwas besorgniserregender Metaphorik, sie habe längst gesehen, was für eine Kraft daraus entsteht, wenn ein User nach dem anderen auf diese Plattform springt, "und die ganz gewöhnliche Weisheit im Kreis herumgereicht wird wie ein Joint auf einem Grateful-Dead-Konzert."

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