MIT-Professor Henry Jenkins über Vernetzung:"Wir erleben eine Neuverteilung der Aufmerksamkeit"

Die Krise der politischen Kommunikation zeigt, dass wir gerade erst dabei sind, die Wirkung einer vernetzten Kultur zu verstehen. Sagt Medienwissenschaftler Henry Jenkins, der über die Folgen der Vernetzung durch das Internet forscht. Ein Gespräch über die Filesharing-Debatte, den Wert von YouTube und eine Schulbildung, in der Abschreiben erlaubt ist.

Johannes Kuhn

Der amerikanische Medienwissenschaftler Henry Jenkins forscht am Massachusetts Institute of Technology (MIT) über die Folgen der vernetzten Kultur, die durch das Internet entstanden ist.

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Henry Jenkins (64) versucht in seinen Ausätzen und Vorlesungen am MIT, den Übergang von alten zu neuen Medien zu beschreiben. Ein Augenmerk liegt dabei auf der "partizipativen Kultur", die das Internet schafft.

(Foto: oH)

Süddeutsche.de: Herr Jenkins, jahrelang wurde Wikipedia als Beispiel für die Kollborationskultur im Netz genannt - auch, weil es nicht viel anderes gab. Nun haben wir Crowdfunding, Zusammenarbeit über Social Media. Wo in der Geschichte der Internet-Kollaboration befinden wir uns gerade?

Henry Jenkins: Ganz am Anfang des Moments, in dem die Öffentlichkeit eine immer größer werdende Rolle spielen wird. Informationen zirkulieren schneller, kleben nicht mehr an Medien wie früher. Das bedeutet im Umkehrschluss: Was sich nicht verbreitet, ist tot. Die Konsequenz ist eine Neuverteilung der Aufmerksamkeit.

Süddeutsche.de: Können Sie Beispiele nennen?

Jenkins: Die kollektiv generierte Aufmerksamkeit, die das Video zur Kampagne Kony 2012 erhielt, hat auch zu einer politischen Diskussion geführt. Das wäre vor einigen Jahren nicht möglich gewesen. Kleine Gruppen haben für ihre Anliegen ein Vehikel gefunden. Queremos beispielsweise ist eine Plattform in Rio de Janeiro, auf der Musikfans via Crowdfunding die Vorfinanzierung leisten, um bestimmte Bands in ihre Stadt zu holen. In anderen Fällen konnten Fans dafür sorgen, dass Hersteller Produkte wieder auflegten, die bereits länger nicht mehr im Sortiment waren. Wenn ein Mensch so etwas fordert, kümmert das in der Regel niemanden. Bei 2000 Menschen wird es interessant.

Süddeutsche.de: Die Möglichkeit der Kollaboration stößt aber auch an ihre rechtlichen Grenzen, wenn es zum Beispiel um Themen wie Filesharing geht.

Jenkins: Der englische Sozialhistoriker Edward Palmer Thompson hat den Begriff der moralischen Ökonomie geprägt, nachdem sich jedes Wirtschaftssystem nach einem inhärenten moralischen System entwickelt. Die Krise eines Wirtschaftszweiges ist deshalb auch eine moralische, und das prägt die Argumente. Die Musikindustrie sagt: Ihr würdet nie aus einer Geldbörse etwas klauen, also stehlt auch keine Alben im Netz. Der Leitspruch "Sharing is caring" hingegen betont den Wert eines offenen Systems und sieht in der alten Distributionsstruktur nicht die Bedürfnisse der Menschen befriedigt. Beide Standpunkte sind also moralische. Ähnliches gilt für die Frage, ob Werte erschaffen werden, wenn alles kostenlos verfügbar ist und niemand eine monetäre Entschädigung für den Produktionsaufwand erhält.

Süddeutsche.de: Gibt es einen Ausweg?

Jenkins: Es wird einen Mittelweg geben, auch wenn ich noch nicht weiß, wie er aussehen wird. Das Interessante ist doch: Erst jetzt sind wir an langsam an dem Punkt, an dem überhaupt alle in der Lage sind zu verhandeln. Die Proteste gegen Acta und Sopa waren deshalb so interessant, weil die vermeintliche Online-Welt dagegen gehalten hat und die Gesetzgeber zum Einlenken gezwungen hat - und das in einer Welt, in der bis dato Urheberrechtsgesetze von Firmen wie Disney quasi veranlasst wurden. Im Falle von Sopa hat der US-Kongress damit in diesem Bereich erstmals auf die Bürger gehört und Hollywood hat zur Kenntnis genommen, dass die Öffentlichkeit sich inzwischen für solche Themen interessiert. Das öffnet den Weg für zukünftige Verhandlungen.

Süddeutsche.de: Sie haben gesagt, dass es eine Debatte über die Werte gibt, die entstehen. Wie schafft eine vernetzte Kultur Bedeutungen und Werte?

Jenkins: Bedeutungen entstehen, wenn wir gemeinsam über Dinge nachdenken. Als 1990 Twin Peaks zum ersten Mal lief, verfolgte ich die Diskussionen von Fans im Netz. Während die Zeitungskritiker sich beklagten, die Serie sei zu kompliziert, beschwerten sich die Online-Fans, sie sei zu einfach zu verstehen und deshalb uninteressant. Der Unterschied: Die Kritiker sahen sich die Sendung alleine an, die Fans guckten gemeinsam online und diskutierten zwischen den Folgen miteinander. Sie hatten also mehr Material, um Sinn zu generieren, als das reine Sendematerial. Das ist nicht die Weisheit der Vielen, das sind kollaborative Akte.

Wer profitiert

Süddeutsche.de: Doch wer profitiert davon, wenn ich mich mit Freunden über ein YouTube-Video austausche? Google als Eigentümer? Die Produzenten?

Jenkins: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir das Web als einen Ort von Bedarfsgegenständen und Geschenken sehen. E-Commerce ist zum Kraftstoff geworden, der das Internet antreibt. Überall können wir Produkte kaufen. Gleichzeitig gibt es etwas wie YouTube, mit dem Google über Werbung Geld verdient, das aber für meine Freunde und mich eine Gemeinschaft schafft.

Süddeutsche.de: Aber der Wert dieser Gemeinschaft ist doch nur schwer zu ermitteln.

Jenkins: An dieser Stelle kommt das Konzept des Geschenks ins Spiel. Wenn ich einen Gegenstand im Laden kaufe, mache ich ihn zum Geschenk, indem ich das Preisschild abnehme und ihn weitergebe. Er hat dann zwar immer noch einen Wert, aber der Beschenkte freut sich doch nicht unbedingt darüber, dass der Gegenstand einen bestimmten Preis gekostet hat - der Wert für den Empfänger lässt sich nicht finanziell bemessen. Ähnlich verhält es sich mit dem Web: Aus klassischer ökonomischer Sicht mag YouTube für die meisten Nutzer keinen Wert erschaffen und Filesharing sogar für Verluste sorgen, aus Sicht der Geschenkökonomie entsteht wohl ein Wert, wenn ich ein YouTube-Video hochlade oder ein Musikalbum weitergebe. Es sind soziale Faktoren wie Anerkennung, die ihn schaffen und die mich motivieren.

Süddeutsche.de: Auf welche Felder wird sich die vernetzte Kultur in den kommenden Jahren am meisten auswirken?

Jenkins: Wenn ich das wüsste, würde ich eine Menge Geld verdienen (lacht). Die gegenwärtige Krise der politischen Kommunikation zeigt, dass wir gerade erst dabei sind, die Wirkung einer vernetzten Kultur zu verstehen. Natürlich müssen wir auch die Schulbildung stärker darauf auslegen, kollaborative Fähigkeiten zu fördern und gemeinsame Problemlösungsstrategien zu beobachten und zu bewerten. Es wird nicht mehr darum gehen, jedem Schüler die gleichen Dinge und Lösungsansätze beizubringen, sondern darum, dass jeder Verantwortung für einen Teil der Probleme übernimmt. Die Ironie dabei ist derzeit: In den gegenwärtigen Standardprüfungen gilt Kollaboration sogar als Betrug.

Das Interview fand telefonisch am Rande der FMX 2012 statt.

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