Löschbeirat in Berlin:Das Recht, Google zu zwingen, einen Link zu entfernen

Wie wollen wir leben? Google wird durch ein Gerichtsurteil gezwungen, Antworten auf die großen Fragen der Zukunft zu finden. Der Konzern hat einen Beirat eingerichtet, der ihm dabei helfen soll. Ein Besuch.

Von Johannes Boie

Der Raum erinnert an einen Gerichtssaal, ob Zufall oder nicht. Es gibt eine Art Jury, die sich hier Beirat nennt. Acht Menschen gehören ihr an, sie sitzen in der Mitte und blicken in den Saal. Zu ihrer Rechten und Linken sitzen je vier Menschen, die machen Vorschläge und Einwürfe. In der Mitte des langen Tisches sitzt Eric Schmidt. Der Chef von Google ist im Grunde der Beiratsvorsitzende. Er erteilt das Wort und achtet darauf, dass alle ihre Zeitlimits für Wortbeiträge einhalten.

Schmidt ist ein hellwacher Vorsitzender. Nach stundenlanger Debatte zeigt er, anders als die Kollegen, keine Müdigkeit. Dazu kommt sein sanfter Humor, mit dem es ihm gelingt, kritische Fragen zu seinen Gunsten zu beantworten. Das sind wohl Eigenschaften, die ihn zum Chef eines Konzerns gemacht haben, dessen Produkte so innovativ, so verbreitet sind, dass sie die Art, wie wir leben und denken, verändern.

Gesprochen wird an diesem Dienstag in der Berliner Kalkscheune über die Vergangenheit, es geht aber in Wahrheit um die Zukunft. Um die Zukunft aller Menschen in der westlichen Welt und über ihre Grenzen hinaus. Kleiner geht es nicht, wenn Google am Tisch Platz nimmt. Verhandelt wird nämlich über das "Recht auf Vergessen", was ein irreführender Titel ist. Eigentlich müsste es heißen "Das Recht, Google zu zwingen, einen Link zu entfernen."

Eric Schmidt besitzt einen sanften Humor und zeigt nach Stunden Debatte keine Müdigkeit

Zur Erinnerung: Am 13. Mai hat der Europäische Gerichtshof (EuGh) Google dazu verpflichtet, auf Wunsch von Bürgern Links aus der Google-Suche zu entfernen. Konkret bedeutet das, dass ein Bürger, der seinen Namen googelt und dabei auf eine Webseite stößt, auf der er zum Gespött gemacht oder scharf kritisiert wird, Google dazu bewegen kann, den Link auf diese Webseite nicht mehr anzuzeigen, wenn er oder andere nach seinem Namen suchen. Dahinter steckt die Überlegung, dass das, was im Netz nicht gefunden werden kann, im Grunde im Netz nicht existiert.

Der Anspruch, nicht erinnert zu werden, ist eine nicht ganz gewöhnliche Idee in der Geschichte. Bislang lebte die Menschheit eher umgekehrt: Herostrat setzte den Tempel der Artemis in Ephesos in Brand, um nicht vergessen zu werden. Die Zeiten haben sich geändert, seit Google das Netz regelmäßig durchsucht und alle Informationen allen Nutzern zur Verfügung stellt. Theoretisch für immer. Aus diesem Urteil, das für ganz Europa Gültigkeit besitzt und dem sich auch andere Suchmaschinen als Google unterwerfen müssen, ergeben sich so viele Probleme, dass Google den Beirat ernannt hat, der sich nun auf Reisen durch Europa in insgesamt sieben Sitzungen einen Überblick über geltende Rechtslagen und die Meinungen von Internet-, Datenschutz-, Rechts- und Verbraucherschutzexperten verschafft.

In das reisende Gremium berufen ist zum Beispiel Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die ehemalige Justizministerin (FDP), die sich mit der Verweigerung der Vorratsdatenspeicherung dauerhaft Meriten als Datenschützerin erworben hat. Sie sitzt zwischen Schmidt und Peggy Valcke, einer belgischen Jura-Professorin. Neben Valcke sitzt Jimmy Wales, einer der Gründer der Wikipedia. Ebenfalls gehören zum Gremium Frank La Rue, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Meinungsfreiheit, Ethik-Professor Luciano Floridi und Le Monde-Chefin Sylvie Kauffmann.

Während sie alle reisen und beraten, wird bereits gelöscht, denn Urteil ist Urteil. Bislang sind bei Google 146 000 Löschanträge eingangen, je nach Land winkt Google 53 bis 57 Prozent der Anträge durch.

Google wurde in seine Rolle gezwungen

Der Konzern hat eine Internetseite eingerichtet, auf der jeder einen Antrag stellen kann. Kommt es zur Löschung, wird jeweils der Seitenbetreiber informiert. Der sich, wenn er einen kritischen Artikel über seinen Chef im Hasenzüchterverein veröffentlicht hat, der plötzlich aus der Google-Suche fliegt, natürlich an zwei Fingern abzählen kann, dass Google auf Betreiben des Hasenzüchtervereinschefs aktiv geworden ist. Was wird er also machen? Er wird einen Artikel darüber veröffentlichen, dass der Hasenzüchtervereinschef nicht nur kritisiert gehört, sondern auch noch jemand ist, der Kritik unterbindet.

Wem ist damit gedient? Wie soll und kann dieses Urteil jemals in einen funktionierenden, zufriedenstellenden Ablauf übersetzt werden. Die Probleme, die im Rahmen dieser Reise gelöst werden müssen, sind ethischer, technischer und juristischer Natur. Weil solche Fragen andauernd im Netz auftauchen, ist der Beirat auch eine Art Lackmus-Test. Kann man mit einem solchen Verfahren die Fragen der digitalen Zukunft klären? Nach nur wenigen Minuten wachsen diese Fragen am Dienstag wie ein Schneeball, der sich zur Lawine entwickelt. Es wird über Grundsätze der Mediengesellschaft debattiert: Wann ist eine Person eine private Person und wann ist sie eine öffentliche Person? Welche Informationen sind im Netz von öffentlichem Interesse? Wo endet die Meinungsfreiheit? Verändert sich der Anspruch darauf, einen bestimmten Text veröffentlichten zu dürfen, über einen Zeitraum hinweg? Wenn Google löschen soll, sollen dann nur europäische Varianten der Suche, wie google.de und google.fr betroffen sein, oder auch google.com?

So komplex ist die Fragelawine, dass Moritz Karg von der Hamburger Datenschutzbehörde und für die Google-Aufsicht zuständig, auf eine sehr detaillierte Nachfrage von Leutheusser-Schnarrenberger mit Lachen reagiert: "Meine Güte", sagt Karg, "ich komme mir vor wie beim ersten juristischen Staatsexamen." Die Fragestellerin lächelt nachsichtig. "Vor allem, wenn einen die ehemalige Justizministerin abfragt", setzt Karg nach. Jetzt lacht der ganze Saal.

Am Ende rollt die Fragenlawine ins Tal, sie mündet in der großen Frage: Wie wollen wir im digitalen Zeitalter leben?

Ja, wie? Bemerkenswert ist, dass am Dienstag zu jedem Detail aufs überzeugendste diametral entgegengesetzte Meinungen vertreten werden. Die acht Experten sind sich nicht einig. Ulf Buermeyer, ein brillanter Jurist mit Technikverständnis, sagt, die Situation könne die Pressefreiheit sogar erhöhen, denn wenn künftig Gerichte bedenken würden, dass Informationen irgendwann wieder gelöscht würden, würden sie möglicherweise liberaler über Berichterstattung urteilen als bislang.

Google macht das Beste daraus

Man tritt nun einen Schritt zurück und schaut sich um. Eric Schmidt mit der lachsfarbenen Krawatte, Leutheusser-Schnarrenberger, Valcke, Wales . . . Die Kopfhörerkabel wehen leicht im Zug der Raumluft, für die Beiratsmitglieder, die kein Deutsch verstehen, wird simultan übersetzt. Auf dem Boden erinnern drei große Bildschirme an die laufende Redezeit. Was ist das hier eigentlich für eine Veranstaltung?

Gerade spricht Matthias Spielkamp, er spricht im Namen von Reporter ohne Grenzen. Als Botschafter der guten Sache, der Verbreitung von Journalismus, ist Spielkamp radikal. Er widerspricht der Verbraucherschützerin Michaela Zinke, die vor ihm sprach, und die nicht unglücklich darüber war, dass Bürger eine Chance haben, ihre Vergangenheit wenn nicht aus dem Netz, doch wenigstens aus der Google-Suche zu bekommen. Buermeyer wird dafür in wenigen Minuten Spielkamp widersprechen und so weiter und so fort.

Spielkamp ist ein Gegner des Löschprinzips, er hat Angst, dass Löschwünsche irgendwann von der chinesischen oder syrischen Regierung kommen. Er redet, bis von seiner Redezeit nur noch eine Sekunde übrig geblieben ist, am Ende ist es ein Satz, der besonders hängen bleibt: "Wir sind unglücklich", sagt Spielkamp, "dass ein privater Konzern diese Abwägungen treffen muss." Diese Kritik am EuGh-Urteil, mit dem der Schlamassel begann, wiederholen so oder so ähnlich fast alle Experten.

Die Situation ist nicht Googles Schuld, der Konzern wurde in die Rolle des Zukunft-Verhandlers gezwungen, er macht das Beste daraus, wie es so seine Art ist, auch für sich selbst. Und für die Gesellschaft? Tatsache ist: Kaum ein Bundestagsabgeordneter könnte so intelligent übers Netz debattieren wie die Beiratsmitglieder und ihre Experten. Und das ist leider das allergrößte Problem.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: