Man hört diesen Vorwurf öfter, gerade wieder in der Debatte um die Flüchtlingspolitik: Die Bürger übernähmen Aufgaben, die eigentlich der Staat bewältigen sollte, heißt es da. Aus dieser Perspektive ist es allein der Job der Regierung und ihrer Behörden, die Ankommenden freundlich willkommen zu heißen, mit Essen, Schlafplätzen, Deutschkursen und Arbeitsplätzen zu versorgen, auf dass sich der Bürger vom Ergebnis überzeugen kann, das bitte schön Integration heißen soll. Der Staat wird als eine Art Problem-Werkstatt betrachtet: Man liefert die Problemthemen dort ab und bekommt sie irgendwann repariert zurück.
Diese Vorstellung von Demokratie kollidiert eigenartig mit dem Anspruch der Bürger nach mehr Mitsprache und Beteiligung, der in der zunehmend digital vernetzten Welt stark wächst. Ist das nur ein Anspruch oder ein wahres Bedürfnis? Oder anders gefragt: Sollte es am Ende doch so sein, dass die Menschen zwar mitreden, aber nicht mittun wollen?
Wenn man sich den Umgang mit Flüchtlingen anschaut, stimmt das so nicht. Die große, häufig über digitale Kanäle wie die sozialen Medien vermittelte Hilfsbereitschaft hat gezeigt, dass die Menschen etwas tun wollen und es auch tun, zumindest, wenn es Not gibt. Nur glauben viele von ihnen, es sei eigentlich nicht ihr Job. Dabei wird es künftig so sein: Je stärker sich Bürger von Institutionen abwenden - und das tun sie massenhaft -, umso stärker müssen sie als Individuen in die Bresche springen. Demokratie kann nicht nur nach Lustprinzip funktionieren, sie ist auch Verpflichtung.
Wie verändern neue Technologien die Demokratie, und wie muss sich die Demokratie angesichts neuer Technologien verändern? Um diese Fragen ging es bei der Tagung "Communication, Democracy and digital Technology" der International Political Science Association (Ipsa) am vergangenen Wochenende im kroatischen Rovinj. Die Flüchtlingskrise war zwar kein Thema auf den Podien; sie ist zu frisch für wissenschaftliche Studien. Dennoch eignet sie sich dazu, das veränderte Zusammenspiel zwischen Institutionen und Gesellschaft zu illustrieren.
Natürlich kann es eine klare Trennung in der Demokratie gar nicht geben: der Staat auf der einen und seine Bürger auf der anderen Seite. "Wir sind der Staat" heißt schließlich nichts anderes, als dass der Staat das Produkt bürgerschaftlichen Engagements ist. Menschen organisieren sich in Parteien, in Organisationen wie Gewerkschaften, Kirchen und Bürgerinitiativen, sie übernehmen politische Ämter, um große gesellschaftliche Aufgaben gemeinsam mit den Behörden zu lösen. Würden alle Bürger den Staat nur noch als Dienstleister und sich selbst als Konsumenten betrachten, bräche die Demokratie zusammen.
In einer zunehmend individualisierten Welt bröckelt jedoch das gebündelte Engagement. Massenorganisationen verlieren an Attraktivität und damit an Macht. Sie werden zunehmend von Bürgern infrage gestellt, die sich nicht einem Programm, einer Parteilinie, hierarchischer Führung, festen Statuten unterwerfen wollen.
Der Politikwissenschaftler Prof. Lance Bennett von der Washington State University beschrieb auf der Ipsa-Tagung, wie sich dieser Wandel weg von der kollektiven Aktion hin zur vernetzten Aktion vollzieht. "The Logic of Connective Action" nennt er das, gemeinsam mit Alexandra Segerberg hat er darüber ein Buch geschrieben (2013, Cambridge University Press). Der Titel lehnt sich an Mancur Olsons "The Logic of Collective Action" an, einem Standardwerk der Politikwissenschaft von 1965. In der vernetzten Gesellschaft entstünden einflussreiche, zum Teil mächtige Massenbewegungen durch Kontakte über digitale Medien, ohne dass jemand einer Organisation beitreten und Statuten unterschreiben müsste, argumentiert er. Früher mussten Organisation ihre Mitglieder motivieren und einschwören, in den hybriden Organisationen seien Menschen von sich aus motiviert. Die Occupy-Bewegung sei ein Beispiel dafür, der Arabische Frühling ist ein anderes. "Junge Menschen wollen nirgendwo Mitglieder sein, neue Organisationen wollen gar keine Mitglieder haben", sagt Bennett.