Demokratie im digitalen Zeitalter:Wenn die Massen den Eliten misstrauen - und umgekehrt

Patienten gegen Ärzte, Wähler gegen Parteien und enttäuschte Flüchtlingshelfer: Vergrößert das Netz die Kluft zwischen Bürgern und Institutionen?

Von Alexandra Borchardt, Rovinj

Man hört diesen Vorwurf öfter, gerade wieder in der Debatte um die Flüchtlingspolitik: Die Bürger übernähmen Aufgaben, die eigentlich der Staat bewältigen sollte, heißt es da. Aus dieser Perspektive ist es allein der Job der Regierung und ihrer Behörden, die Ankommenden freundlich willkommen zu heißen, mit Essen, Schlafplätzen, Deutschkursen und Arbeitsplätzen zu versorgen, auf dass sich der Bürger vom Ergebnis überzeugen kann, das bitte schön Integration heißen soll. Der Staat wird als eine Art Problem-Werkstatt betrachtet: Man liefert die Problemthemen dort ab und bekommt sie irgendwann repariert zurück.

Diese Vorstellung von Demokratie kollidiert eigenartig mit dem Anspruch der Bürger nach mehr Mitsprache und Beteiligung, der in der zunehmend digital vernetzten Welt stark wächst. Ist das nur ein Anspruch oder ein wahres Bedürfnis? Oder anders gefragt: Sollte es am Ende doch so sein, dass die Menschen zwar mitreden, aber nicht mittun wollen?

Wenn man sich den Umgang mit Flüchtlingen anschaut, stimmt das so nicht. Die große, häufig über digitale Kanäle wie die sozialen Medien vermittelte Hilfsbereitschaft hat gezeigt, dass die Menschen etwas tun wollen und es auch tun, zumindest, wenn es Not gibt. Nur glauben viele von ihnen, es sei eigentlich nicht ihr Job. Dabei wird es künftig so sein: Je stärker sich Bürger von Institutionen abwenden - und das tun sie massenhaft -, umso stärker müssen sie als Individuen in die Bresche springen. Demokratie kann nicht nur nach Lustprinzip funktionieren, sie ist auch Verpflichtung.

Wie verändern neue Technologien die Demokratie, und wie muss sich die Demokratie angesichts neuer Technologien verändern? Um diese Fragen ging es bei der Tagung "Communication, Democracy and digital Technology" der International Political Science Association (Ipsa) am vergangenen Wochenende im kroatischen Rovinj. Die Flüchtlingskrise war zwar kein Thema auf den Podien; sie ist zu frisch für wissenschaftliche Studien. Dennoch eignet sie sich dazu, das veränderte Zusammenspiel zwischen Institutionen und Gesellschaft zu illustrieren.

Natürlich kann es eine klare Trennung in der Demokratie gar nicht geben: der Staat auf der einen und seine Bürger auf der anderen Seite. "Wir sind der Staat" heißt schließlich nichts anderes, als dass der Staat das Produkt bürgerschaftlichen Engagements ist. Menschen organisieren sich in Parteien, in Organisationen wie Gewerkschaften, Kirchen und Bürgerinitiativen, sie übernehmen politische Ämter, um große gesellschaftliche Aufgaben gemeinsam mit den Behörden zu lösen. Würden alle Bürger den Staat nur noch als Dienstleister und sich selbst als Konsumenten betrachten, bräche die Demokratie zusammen.

In einer zunehmend individualisierten Welt bröckelt jedoch das gebündelte Engagement. Massenorganisationen verlieren an Attraktivität und damit an Macht. Sie werden zunehmend von Bürgern infrage gestellt, die sich nicht einem Programm, einer Parteilinie, hierarchischer Führung, festen Statuten unterwerfen wollen.

Der Politikwissenschaftler Prof. Lance Bennett von der Washington State University beschrieb auf der Ipsa-Tagung, wie sich dieser Wandel weg von der kollektiven Aktion hin zur vernetzten Aktion vollzieht. "The Logic of Connective Action" nennt er das, gemeinsam mit Alexandra Segerberg hat er darüber ein Buch geschrieben (2013, Cambridge University Press). Der Titel lehnt sich an Mancur Olsons "The Logic of Collective Action" an, einem Standardwerk der Politikwissenschaft von 1965. In der vernetzten Gesellschaft entstünden einflussreiche, zum Teil mächtige Massenbewegungen durch Kontakte über digitale Medien, ohne dass jemand einer Organisation beitreten und Statuten unterschreiben müsste, argumentiert er. Früher mussten Organisation ihre Mitglieder motivieren und einschwören, in den hybriden Organisationen seien Menschen von sich aus motiviert. Die Occupy-Bewegung sei ein Beispiel dafür, der Arabische Frühling ist ein anderes. "Junge Menschen wollen nirgendwo Mitglieder sein, neue Organisationen wollen gar keine Mitglieder haben", sagt Bennett.

Parteien haben ihre Kampagnen nicht mehr unter Kontrolle

Das hat aber auch Nachteile. Denn die vernetzte Mobilisierung führt dazu, dass Institutionen der alten Prägung ihre eigenen Kampagnen nicht mehr unter Kontrolle haben. Parteien müssen damit leben, dass Wahlkämpfe aus dem Ruder laufen, Nichtregierungsorganisationen können die Mobilisierung von Sympathisanten nicht mehr steuern. Bennett: "Kommunikation läuft heute anders ab als in den vergangenen paar Tausend Jahren."

Das Problem ist, dass diese Mobilisierung im Fluss bleibt und genauso schnell enden kann, wie sie begonnen hat. So war die spontane Selbstvernetzung hilfsbereiter Bürger bei den ersten Flüchtlingswellen in Deutschland ein Beispiel dafür, wie Probleme einigermaßen effizient gemeinsam von Bürgern und Staat gelöst werden können. Nur ging es um eine Notsituation. Ist der Staat nicht in der Lage, die Hilfsbereitschaft auf ein stabiles, institutionelles Fundament zu stellen, bricht alles zusammen, sobald die Bürger erschöpft sind oder ein anderes Thema für sich entdecken.

Genau hier liegt die Herausforderung für die Demokratie: Es wird eine Verbindung gebraucht zwischen der neuen Art der Selbstorganisation und traditionellen Institutionen. Doch daran scheint es zu fehlen. Die einen misstrauen den anderen.

Einige auf der Ipsa-Konferenz vorgestellte Rechercheprojekte haben gezeigt, dass staatliche Institutionen wie Parteien, die EU-Kommission oder Spitzenpolitiker soziale Medien zwar nutzen, sie aber ganz überwiegend als Marketinginstrument einsetzen. Man beschallt die Bürger über Facebook und Twitter mit seinen Botschaften, möchte aber möglichst kein Echo haben, geschweige denn einen Dialog. Zum Beispiel fanden zwei Wissenschaftler aus Dänemark in einer Stichprobe heraus, dass die EU-Kommission in ihrer Facebook-Darstellung die Wirtschaftskrise komplett verschwiegen hatte.

Man könnte sagen: Das Informationszeitalter entwickelt sich durch die Möglichkeiten der Selbstdarstellung im Netz zu einem Marketing-Zeitalter. Und dahinter steckt eine Logik. Denn je weniger Strahlkraft Massenorganisationen haben, desto stärker muss der Einzelne sehen, dass er groß herauskommt, auch wenn er etwas für seine Organisation erreichen will.

Profis und Laien haben trotz aller Vernetzung Schwierigkeiten, zueinanderzukommen. Dialog auf Twitter zum Beispiel findet vor allem zwischen Eliten statt, zum Beispiel Politikern und Journalisten. Eine qualitative Studie, die kürzlich auf dem Colloquium des Humboldt-Instituts für Internet und Gesellschaft vorgestellt wurde, brachte ein ähnliches Ergebnis selbst für die Kommunalpolitik: Demnach schätzen es Lokalpolitiker nicht, wenn sich Dorfbewohner bei Bürgerhaushalten mit ihrem Know-how und ihren Bedürfnissen einbringen. Spüren Bürger allerdings, dass ihr Engagement nichts bringt, stellen sie es ein.

Wenn keine Zusammenarbeit gelingt, droht ein Machtvakuum

Auch fern der Politik, zum Beispiel im Gesundheitswesen, existieren zwei Welten: die eine der digital vernetzten Patientenforen und ratsuchenden Bürger und die andere, die Weiße-Kittel-Welt der Ärzte und der Wissenschaft. In den Medien sind es die Redaktionen, die sich schwertun mit Bloggern und Bürgerjournalisten.

Im Sinne einer lebendigen Demokratie gilt es, diese Parallelwelten zu verbinden. Einerseits müssen Institutionen die Kraft und den Ideenreichtum engagierter Bürger schätzen und deren Kapazitäten nutzen, sie müssen deren Bedürfnisse ernst nehmen. Andererseits müssen Bürger wieder lernen, die Institutionen zu schätzen: deren Qualitätsstandards, deren Knowhow, deren stabiles Engagement und deren Bereitschaft, die Verantwortung zu übernehmen und im Zweifel den Kopf hinzuhalten - Dinge, die fluide Bürgerbewegungen nicht bieten können.

Wo Institutionen und Bürger sich verbinden, können die Ergebnisse von Politik besser, kann die Demokratie stärker werden. Wo sie dies nicht tun, droht ein Machtvakuum - und das ist gefährlich. Der gescheiterte Arabische Frühling ist ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn starke Bewegungen auf schwache oder nicht vorhandene Institutionen treffen.

"Wenn wir das Demokratie-Problem nicht lösen, können wir auch alle anderen Probleme nicht lösen", sagt Bennett. Nur ein Autokrat würde ihm widersprechen.

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