Der Kulturkritiker William Deresiewicz lehrte von 1998 bis 2008 Literaturwissenschaft an der Universität Yale. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er im Chronicle of Higher Education zwei vielbeachtete Essays. "The End of Solitude" beschäftigt sich damit, wie das Echtzeit-Internet uns der Selbstreflexion beraubt. In "Faux Friendship" vertritt Deresiewicz die These, dass soziale Netzwerke unsere Freundschaftserfahrungen negativ beeinflussen.
So verbunden und doch so alleine
(Foto: Foto: iStock)SZ: Ihre beiden Essays beschäftigen sich mit Abgeschiedenheit und Freundschaft im digitalen Zeitalter. Die beiden Konzepte scheinen auf den ersten Blick jeweils am entgegengesetzten Ende des Spektrums zu liegen.
William Deresiewicz: Das denken wir, doch beides hängt eng miteinander zusammen: Wer ein echter Freund sein möchte, braucht Abgeschiedenheit, um über sich selbst zu reflektieren. Um aber ein ehrliches Verhältnis zu mir selbst zu haben, muss ich wahre Freundschaft kennen, weil ich mich im Gespräch mit dem Freund selbst entdecken kann. Unsere gegenwärtige Online-Welt macht jedoch sowohl Abgeschiedenheit, als auch echte Freundschaft zunehmend schwieriger.
SZ: Aber die erfüllte Utopie des Internets ist doch, dass wir überall Freunde entdecken können.
Deresiewicz: Das Internet ist Teil einer Entwicklung, bei der wir die Qualität der Freundschaft durch Quantität ersetzen. Wir können mit hundert Menschen gleichzeitig kommunizieren, mit Menschen, die wir kennen oder die wir nie getroffen haben. Aber worüber tauschen wir uns aus? Facebook besteht nur aus schnellen kleinen Botschaften zu meist trivialen Dingen. Für mehr gibt es keinen Platz. Und weil die Qualität dieses Austausches so unbefriedigend ist, bekommt man bei genauerem Nachdenken ein Gefühl der Einsamkeit, der negativen Form der Abgeschiedenheit.
SZ: Soziologen haben den Begriff der "Ambient Awareness" geprägt, einer Art elektronisch vermittelter Nähe. Über die Statusnachrichten sieht der Nutzer im Augenwinkel, wie es seinen Freunden geht. Das hört sich nicht nach Einsamkeit an.
Deresiewicz: Das Merkwürdige ist doch, dass wir immer glauben, dass eine neue Technik ein vorhandenes Bedürfnis befriedigt. Tatsächlich schafft sie dieses Bedürfnis oft erst. In diesem Fall ist das der Wunsch, 24 Stunden am Tag zu wissen, was unsere Freunde machen. Aber darum geht es in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht. Ein Freund ist nicht der, der mir jeden blödsinnigen Gedanken mitteilt, der ihm im Kopf herum geht - ein Freund ist der, den ich sechs Monate nicht sehe, für den ich mir aber dann ein ganzes Wochenende Zeit für Gespräche mit ihm nehme.
SZ: Liegt Ihre Kritik vielleicht darin begründet, dass wir das Wort "Freund"im Internet falsch verwenden? "Kontakt" würde es in vielen Fällen vielleicht besser treffen.
Deresiewicz: Natürlich ist es Unsinn, jeden als Freund zu betrachten. Das Problem ist: Indem wir unsere bestehenden Freundschaften zu Facebook umziehen lassen, gibt es kaum noch Abstufungen. Unsere öffentlichen Statusnachrichten gehen an den besten Freund und den entfernten Bekannten. Wir beschäftigen uns so sehr mit trivialer Kommunikation, dass wir immer weniger verstehen, was es ausmacht, ein Mensch zu sein.