20 Jahre World Wide Web:Wie ein Mann die Welt veränderte und niemand es bemerkte

Modem-Imitator und Technik-Genie: Vor 20 Jahren brachte der Informatiker Tim Berners-Lee im Cern das World Wide Web ans Netz und machte so das Internet erst öffentlich zugänglich. Unser Autor war dabei.

Patrick Illinger

Man denkt ja, technische Innovationen würden stets mit großem Getöse eingeführt. So wie auf Automessen, mit hübschen Frauen auf Kühlerhauben. Oder so wie es Apple-Chef Steve Jobs zelebriert, wenn er vor Tausenden ekstatischen Techies ein neues Gadget enthüllt: Hier, meine Jünger, das iPhone!

Doch manchmal läuft es auch ganz anders ab, unspektakulär, ja geradezu schäbig. So war es bei einer Erfindung, die heute viel bedeutender ist als jedes neue Smartphone und jedes Cabriolet. Es geht um das World Wide Web, also das, worauf wir heute herumklicken (und neuerdings auch "swipen"), wenn wir online sind.

Dieses World Wide Web, kurz www, wurde vor 20 Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Doch es nahm niemand so recht Notiz davon. Ich weiß das, denn ich war dabei.

Der Rechtfertigung halber sei gesagt, es waren noch um die 8000 andere Leute dabei, und die haben auch nichts gemerkt. Es war im Sommer 1991, und wir, das waren vor allem Physiker. Teilchenphysiker aus allen Teilen der Welt, die am Europäischen Forschungszentrum Cern versuchten, die Urbausteine des Universums zusammenzuklauben.

Ein Riesenlabor ist das Cern, groß wie eine Kleinstadt mit dem Stromverbrauch einer Großstadt. So ein Zentrum braucht natürlich viel Infrastruktur, Kantinen, Bank, Post, eine eigene Pension und einen Kindergarten, in dem übrigens die vergeistigten Physiker immer wieder mal ihre Kinder vergessen.

Blitzgescheite Buchhalter

Ganz wichtig ist natürlich die Computerabteilung, denn die Experimente der Teilchenforschung erzeugen unvorstellbar viele Messwerte, die als Daten gespeichert werden. Vor 20 Jahren waren gerade Magnetbandkassetten modern, die in einer riesigen Halle von Robotern hin- und herbugsiert wurden. Für Besucher des Cern war das eine beeindruckende Attraktion.

Wir Physiker sahen die Computerabteilung, sie hieß DD für "Data Division", als eine Art Dienstleister an, vielleicht so wie in einem normalen Betrieb die Lohnbuchhaltung. Wozu unsere Buchhalter jedoch in der Lage waren, das sollten wir später noch merken.

In der DD arbeitete ein junger, zurückhaltender Engländer namens Tim Berners-Lee. Er war keine Partykanone, hatte aber einen gewissen Humor. Das Geräusch eines 2400-Baud-Modems zum Beispiel kann er bis heute täuschend echt nachahmen.

Dann krächzt er mit dem Rachen und pfeift genau so, wie es einst klang, wenn man am PC eine Datenverbindung aufbaute. Mit dem Internet waren wir alle bestens vertraut, das Pentagon hatte ja die ersten Computer schon 1969 vernetzt. Nur sah das Internet nicht so aus wie heute.

"Falls euch der Code interessiert, schickt mir eine Mail"

Wir hatten Bildschirme, auf denen die Schrift grün leuchtete, ohne Bilder und natürlich ohne Werbung. Um dem Computer etwas anzuschaffen, musste man kryptische Befehle hinter eine spitze Klammer schreiben. Zum Beispiel > filelist, um die eigenen Daten und Programme zu finden, oder >tell donato lunch? um Donato zum Mittagessen zu treffen.

Tim Berners-Lee an seinem Arbeitsplatz, 1998

Tim Berners-Lee 1998 vor seinem Computer: Keine Partykanone, aber humorvoll.

(Foto: AP)

Es gab sogar Leute, die unterhielten eine Fernbeziehung mit einer Art Steinzeit-Skype. Man tippte >phone sowie den Namen des Partners, und der Bildschirm teilte sich in zwei Hälften. Oben erschien, was der Gesprächspartner schrieb, man selbst tippte in die untere Hälfte. Das klingt heute lächerlich, aber damals war es Spitzentechnologie. Hacker aus aller Welt übten seinerzeit auf Cern-Computern, bevor sie sich an Banken herantrauten.

Tim Berners-Lee, besagter Computermensch aus der DD, wollte uns Physikern das Leben etwas leichter machen. Er hatte eine Software entwickelt, die er anfangs Mesh nannte (englisch Gitter) und später Web (wie das Netz einer Spinne).

Kurz gesagt ging es darum, dass wir nicht mehr zehnstellige Zahlenfolgen eintippen sollten, um einen Computer anderswo auf der Welt anzuwählen. Das hypertext transfer protocol, kurz http, sollte Bildschirm-Inhalte so aufpeppen, dass man sie mit einer Maus anklicken kann. Der Benutzer sollte sich nur noch um die Inhalte kümmern.

Die Grundidee hatte Berners Lee bereits im Herbst 1989 entwickelt, übrigens eher aus einer Passion heraus, seine Kollegen sahen das skeptisch. Am 6. August 1991 machte er sein "World Wide Web Projekt" allgemein zugänglich - mit einer knappen Mitteilung, die man, wo sonst, in den Eingeweiden des Computersystems am Cern lesen konnte.

Doch im August 1991 nahm kaum jemand Notiz davon. Die Physiker arbeiteten im Schichtbetrieb an ihren Experimenten. Die jüngeren feierten nachts am Genfer See oder stiegen auf das Juragebirge auf der französischen Seite, an dessen Fuß auch viele von uns in Wohngemeinschaften lebten.

Keinen Schimmer vom Taumel

In jenem Sommer staunten wir über Uros, einen Jugoslawen, der eines Tages verschwand, weil es Krieg gab in seinem Land. Eine andere WG in der Nachbarschaft hielt Chinesen versteckt, die seit dem Tiananmen-Massaker Angst vor der Staatsgewalt ihrer Heimat hatten. Für ein Memorandum der Data Division interessierte sich niemand. Mit unseren Computern kamen wir klar, auch ohne Hypertext und World Wide Web.

Keiner von uns konnte sich vorstellen, dass eine Software, die im Grunde nur vereinfachte, was wir sowieso täglich taten, nämlich Daten hin- und herzuschieben und E-Mails zu schreiben, dass diese Technik ein paar Jahre später die Welt in einen Taumel treiben würde.

Kein Sinn für den Klick

Natürlich kamen wir später ins Grübeln, zum Beispiel als ein gewisser Marc Ostrofsky im Jahr 1999 die Web-Adresse www.business.com für 7,5 Millionen Dollar verkaufte. Solche Adressen hätten wir 1991 reihenweise reservieren können.

Heute ist Ostrofsky noch viel reicher und hat einen Bestseller geschrieben. Es heißt: "Get Rich Click!" Genau für diesen Klick hatten wir damals keinen Sinn. Tim Berners-Lee übrigens auch nicht; weder er noch das Cern haben je für das World Wide Web Geld kassiert. "Falls euch der Code interessiert", schrieb Berners-Lee im August 1991, "schickt mir eine Mail. Es kostet nichts."

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