Süddeutsche Zeitung

IT-Konzern im Umbruch:Microsoft entdeckt die Kraft des Designs

Microsoft hat seine Software 30 Jahre lang mit bunten Icons und überflüssigen Funktionen überfrachtet. Nun will der Konzern allen Ballast über Bord werfen - seine Produkte sollen künftig die Schönheit des Wesentlichen verkörpern. Kann dem schwerfälligen Softwareriesen die Wende gelingen?

Bernd Graff

Die Münchner Maximilianstraße ist nicht nur eine Einkaufsstraße in der bayerischen Hauptstadt. Sie ist die erste Adresse von Luxus, Labels und Lifestyle: Ein halber Kilometer Schaufenster von der Kategorie beeindruckend bis exquisit durchgeknallt. Auch ein wenig lässig. Das Irdischste hier sind die Straßenbahnschienen in der Mitte der unwirklichen Straße.

In einem der Flag Stores, dem von Jil Sander, steht an einem kalten Donnerstagabend Oliver Kaltner. Es gibt Models, Champagner, Designerschnittchen. Und Kaltner stellt den geladenen Gästen ein neues Produkt vor, ein Jil-Sander-Smartphone, ein internetfähiges Handy also. Es stammt, was Konfektion und Optik angeht, tatsächlich aus dem Hause des Mode-Labels Jil Sander, sonst wäre man ja nicht hier.

Aber es stammt auch aus dem Hause Microsoft. Und für alle, die dieses Ereignis vorab nicht sofort zuordnen konnten, schien die Einladung dazu so, als ob Straßenbahnschienen und Haute Couture plötzlich gemeinsame Sache machen wollten.

Oliver Kaltner zerstreut dieses Vorurteil in seiner zehnminütigen Ansprache. Das liegt zum einen am vorgestellten Produkt, einem klar geschnittenen, fast puristisch reduzierten, schwarzen Gerät auf der technischen Plattform von LG Electronics. Und zum anderen an Kaltner und seiner Art, dieses mutmaßliche Misfit in der Kooperation zweier Häuser plausibel zu erklären. Nein, nicht Jil Sander hat sich dem Digital-Dinosaurier Microsoft genähert, sondern Microsoft dem Design geöffnet. Wow!

30 Jahre Microsoft-Horror

Alles, was man aus fast 30 Jahren PC-Betriebssystem-Horror kennt, alles, was man mit Office-Programmen verbindet, ist in der PC- und Internetgeschichte eng mit dem Namen Microsoft verbunden. Und bislang auf eine eben nicht schöne, nicht lässige Art.

Der Name stand für Effizienz, das immer, aber eben nicht für Eleganz und für das, was man mit Ease-of-Use bezeichnet. Microsoft hatte eher das Image seines eigenen Wortungetüms: Es war ein unerwartet schwerer Ausnahmefehler, was Design und Anwender-Erfahrung angeht. Das soll sich nun ändern, das hat sich schon geändert. Und Oliver Kaltner ist der Mann, der diese Microsoft-Wandlung maßgeblich zu verantworten und voranzutreiben hat.

Der 43-Jährige ist erst seit wenigen Monaten Mitglied der deutschen Geschäftsleitung und Microsofts "General Manager Consumer & Channels Group". Was wie der Phantasie-Chefposten aus einem Science-Fiction-Roman klingt, ist tatsächlich das Ergebnis eines Umdenkens bei Microsoft.

Oliver Kaltner verantwortet den Vertrieb und die Vermarktung aller Endgeräte und Office-Produkte an Privatkunden. Zudem betreut er die Zusammenarbeit mit Telekommunikationsunternehmen. Kaltners Position gab es zuvor nicht. Microsoft hat sich umstrukturiert und einige der wichtigsten Bereiche des Unternehmens zusammengelegt, um das Geschäft mit PCs, Tablets, Spielekonsolen und Smartphones für Microsoft in Deutschland neu auszurichten.

Ein ungeheuerliches Weltverständnis

Die Reorganisation des Giganten betrifft nicht nur Deutschland, sie ist weltweit in nur vier Monaten vollzogen worden. Und sie betrifft alle Unternehmensbereiche. Was ist da bei dem als schwerfällig geltenden und früher so umständlich agierenden Unternehmen Microsoft passiert?

Es ist banal, für das Verständnis, das Microsoft bislang von der Welt hatte, aber schier ungeheuerlich: Das Unternehmen aus Redmond hat versucht, sich in seine Kunden und deren Bedürfnisse hineinzuversetzen. Platt gesagt, fragt man sich in Redmond und München nicht mehr: Was können wir für den Kunden entwickeln? Sondern: Was will der Kunde tatsächlich?

Offenbar hat diese Veränderung der Geschäftsperspektive den sofortigen und schnell umgesetzten Umbau der Unternehmensstruktur nötig gemacht. Es wurden und werden Vertriebs- und Vermarktungskanäle zusammengelegt, das Marketing vereinheitlicht sowie ein dezidierter Online-Bereich geschaffen.

Kaltner hält dies für wesentlich. "Eine der wichtigsten Aufgaben, die ich bislang zu bewältigen hatte, war, Ballast über Bord zu werfen: Ballast in der Kommunikation, Ballast in den Funktionen der Software, Ballast in der Organisation und in den Produktionsabläufen." Denn der Fokus auf die Kundeninteressen habe Microsoft drei wesentliche Aspekte erkennen lassen: "Die Menschen wollen Schönheit, Klarheit und Nutzwert. Und damit sie dies erleben können, müssen die Produkte, die sie anwenden, reduziert sein auf den unmittelbaren Nutzen, also einfach, aber umfassend sein."

So etwas hat man von einem Microsoft-Manager selten gehört. Außerdem: Gab es nicht Office-Versionen, die so überkomplex und mit überflüssigen Funktionen befrachtet waren, dass man nicht einmal mehr den Knopf zum Abspeichern von Dokumenten finden konnte? Office 2007 etwa war noch mit Multifunktionsleisten so überfrachtet, dass man kaum mehr Platz zum Erstellen von Dokumenten hatte. Nach einem neuen, nun kontextsensitiven Konzept werden heute nur noch die Befehle und Symbole angeboten, die zu der jeweiligen Aufgabe passen. So zeigt sich das neue Smartphone.

Das Betriebssystem Windows 8 wird dieses veränderte Design der Oberfläche übernehmen: Seine kachelförmig strukturierte Optik lehnt sich an das Interface von "Windows Phone" an. Auch andere Hersteller wie Nokia haben das neue "Microsoft Phone" bereits übernommen. Nokia mit seinem Flaggschiff "Lumia 800".

Kaltner, der sich nach seiner Jil-Sander-Ansprache schon ein wenig warmgeredet hat, bemerkt, dass man die Giganten-Metamorphose kaum glauben mag und ergänzt: "Denken Sie an die Bauhaus-Ästhetik!" Bauhaus-Ästhetik? Auch das noch. Das ist keck, wenn man Jahrzehnte mit den kinderzimmerbunten, wenig zurückhaltenden Spaß-Icons der Windows-Betriebssysteme verinnerlicht hat.

Kaltner meint es ernst. "Das Prinzip des Bauhauses meinen wir. Es lautet: Die Form folgt der Funktion. Wir reduzieren uns auf das Wesentliche, vermeiden den Ballast an Dekor und Funktionsüberfluss. Wir wollen reine, klare Produkte - und zwar unabhängig davon, welches Gerät ein Anwender gerade nutzt. Er soll immer dieselbe, geradlinige Erfahrung von Tiefe und Klarheit machen können.

Egal, ob er mit dem neuen Windows-Betriebssystem arbeiten wird, sein Smartphone mit Windows Phone benutzt, mit der Xbox online spielt, seine Daten mit den Office Web Apps in der Cloud speichert oder über die virtuelle Festplatte Skydrive Fotos mit seinen Freunden teilt: Der Kunde von heute wünscht einen bruchstellenfreien Medienkonsum vom Smartphone über den Tablet-PC, den klassischen PC bis hin zu Fernseher und Spielekonsole."

Der veränderte Microsoft-Geist

Die Digitalisierung der Anwenderbereiche sei abgeschlossen. Nun gehe es bei Microsoft um Konvergenz, Datensicherheit, eine schnelle und reibungslose Navigation, den jederzeitigen Zugriff auf alle Daten - und das möglichst mit nur einem Gerät.

So scheint die Alliance mit Jil Sander nach diesem Konzept folgerichtig, auch wenn man den Nutzen einer Jil-Sander-App, die diesem Phone beigegeben ist und die wenig mehr ist als ein Online-Kollektionskatalog, fraglich finden kann. Das neue Betriebssystem Windows Phone 7.5, unter dem das Smartphone läuft, belegt einen veränderten Microsoft-Geist tatsächlich.

Es ist übersichtlich strukturiert, lässt sich den eigenen Vorlieben anpassen und reduziert den Funktionsumfang aufs vernetzte Wesentliche: Kalender, Kontakte, E-Mail, Chat, Office-Programme in der Cloud, Suche und die Anbindung an soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter.

Zuhören statt Eigenbrödeleien

Das Betriebssystem macht einen auf Inhalte, nicht Anwendungen, konzentrierten Eindruck. Die Software hält sich wohltuend im Hintergrund. Es bleibt indes eine Geschmacks- und Bedürfnisfrage, wie man Microsofts Intervention ins eigene System im Ergebnis findet.

Und es bleibt abzuwarten, wie erfolgreich sich der bis vor kurzem schier unbeweglich scheinende Berg aus Redmond nun gegen Apples Design-Dominanz und Googles erfolgreiches System Android mit den neuen Lösungen für PCs und Phones behaupten wird. Eines aber muss man anerkennen: Microsoft hat sich bewegt. Nicht, weil es meint, die Menschheit mit Eigenbrödlereien beglücken zu müssen. Sondern weil es den Menschen zuhört, die seine Produkte benutzen.

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Quelle:
SZ vom 29.12.2011/joku
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