iPad: Verkaufsstart in den USA:Zucker für die Augen

Bücher mit Eselsohren, vergilbte Landkarten - all das ist Vergangenheit. Das neue iPad belebt das Ideal einer makellosen Welt. 700.000 Exemplare sollen bereits verkauft worden sein.

J. Häntzschel, New York

Erst erlahmen die Unterarme, dann beginnen die Handgelenke zu schmerzen, und schließlich schläft das Intimleben ein. Vielleicht wird man das bald "iPad-Syndrom" nennen. Sobald man es sich nämlich wie die ungefähr 700.000 Enthusiasten, die am Oster-Wochenende in den USA das neue Gerät gekauft haben, im Bett oder auf dem Sofa mit Apples neuer Wundertafel gemütlich gemacht hat, fällt zunächst das hohe Gewicht von 680 Gramm auf. Das iPad und die Hände, die es umklammern, dürften sich nur schwer aneinander gewöhnen.

Wäre da nicht das hohe Suchtpotential, das die Schmerzen alsbald vergessen macht. Dafür sorgt der Bildschirm, der Fotos in fast unwirklicher Brillanz darstellt. Der Graphikzauber, der darauf entfaltet wird, ist deshalb so beeindruckend, weil noch die kleinste Operation belohnt wird. So lassen sich beispielsweise mit zwei Fingern die Textdarstellungen vergrößern und verkleinern - alles noch raffinierter als beim iPhone. Die Seiten mit den Symbolen für die Programme ("Apps") flitzen nur so über den Bildschirm, seitenlange Texte sausen auf und ab. Auch Dia-Schauen verblüffen mit hoher Geschwindigkeit und Effekten.

Hinter dem iPad steht die Utopie eines Zugangs zur Welt, der alles Mühsame und Materielle hinter sich lässt. Kein knittriges Zeitungspapier mehr, keine Kisten voller vergilbter Taschenbücher, keine Landkarten, Brettspiele, Fotoalben, Notizzettel. Die Welt soll so leer und makellos sein wie in Richard Misrachs Foto von der Abenddämmerung in Nevada, das Steve Jobs als Bildschirmhintergrund ausgewählt hat.

Das Ideal vom Einfachen

Das Gerät ist dem Ideal des Einfachen und Simplen angenähert, so gut es irgend ging. Doch was heißt schon "Gerät"? Tastatur, USB-Anschluss, auswechselbare Batterie: alles abgeschafft. Immerhin lassen sich USB-Anschluss und Tastatur nachrüsten. Seit Apples Anfängen kämpft Steve Jobs eine erbitterte Schlacht gegen alles, was den Computer schwer und klobig macht.

Er packte Rechner und Bildschirm in ein einziges Gehäuse, schaffte das Diskettenlaufwerk ab, brachte mit dem MacBook Air einen Computer ohne DVD-Laufwerk heraus und verbaute die Batterie fest ins Gerät ein, wodurch er wieder vier Schrauben sparte. Zudem verhalf er mit dem iPhone dem Touchscreen zum Durchbruch, der noch die letzten Knöpfe überflüssig macht. Immer reduzierter werden die Kreationen von Apple.

Die graphische Oberfläche des iPad ist aber eine Mischung aus Alt und Neu. Für das Musikprogramm iTunes erfand er eine neuartige Oberfläche. Für die anderen iPad-Programme aber nutzt er fotorealistische Abbildungen in einer Weise, die an Kitsch grenzt. Der gelbe "Notizblock" scheint in einer jener Kunstledermappen zu stecken, wie sie Versicherungsvertreter lieben. Das digitale Adressbuch hat Fadenheftung und ein ausgestanztes Register.

Am weitesten geht diese Manie jedoch bei den E-Books, die hier iBooks heißen. Die Startseite zeigt die heruntergeladenen Bücher in einem gemaserten Holzregal wie aus der Kinderabteilung der Stadtbücherei. Klickt man auf eines, klappt einem der Umschlag entgegen. Und beim Blättern wölbt sich die neue Seite je nach dem Winkel, in dem man sie "anfasst" über die eben gelesene. Mit dieser leicht infantilen Ästhetik der Benutzeroberfläche und der Eliminierung von allem, was an Arbeit oder Technik erinnert, reduziert das iPad den Computer zum Unterhaltungsterminal für konsumfreudige Couch-Potatoes.

Weniger Inhalt für mehr Geld

Sicher wird es hier und dort auch anderen Zwecken dienen. Und die App-Entwickler arbeiten seit Monaten fieberhaft daran. Vielleicht werden Schüler damit Sprachen lernen. Vielleicht werden Krankenschwestern am Bett Patientendaten damit aufnehmen. Doch andere Hersteller versuchen schon seit den neunziger Jahren vergeblich, die sogenannten Tablet-Computer für solche Zwecke zu verkaufen.

Weniger Inhalt für mehr Geld

Die wahre Funktion des neuen Gerätes ist eine andere: So wie Apple mit iTunes und iPod vor zehn Jahren begann, dem Wildwuchs der Musiktauschbörsen eine gut sortierte und profitable Alternative entgegenzustellen, ist das iPad ein gut beleuchteter und täglich geputzter Laden für Filme, Bücher, Spiele und Nachrichten. Hier wird Verzehrfertiges für alle die angeboten, die nicht genug Zeit und Phantasie haben, sich durch illegale Tauschbörsen im Untergrund zu arbeiten.

Der Schlüssel hierzu sind die Apps von Inhalte-Anbietern wie dem DVD-Verleiher Netflix oder der New York Times, dem Fernsehsender ABC und Tausenden anderen, die in den nächsten Wochen hinzukommen werden. Statt deren Websites aufzurufen, legen die Medienkonzerne den Benutzern nahe, dieselben Inhalte mittels der Apps zu öffnen. Doch statt Zusatzfunktionen findet der erstaunte Leser dort oft weniger Stoff als auf den Websites, für den er aber, wie beim Wall Street Journal, ein Vielfaches bezahlen soll.

Wer seit 15 Jahren daran gewöhnt ist, am Computer Gratisinhalte von Websites zu fischen, der ist schwer umzuerziehen. Ein neues Gerät wie das iPad bietet diese Chance, so hofft Apple. Auch wenn es nichts anderes ist, als ein Computer ohne Tastatur, versucht Jobs Unternehmen damit, das Internet neu zu erfinden und den Unterhaltungs- und Informationsmarkt zu beleben, in dem seit Jahren immer weniger Geld fließt. Der Lohn ist Übersicht, Zucker für die Augen und simulierte Vertrautheit. Der Preis ist Gängelung und das weitere Verblassen der Mitmach-, Gratis- und Freiheitsutopie des Internet.

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