Internetfreiheit:Der Westen auf der schiefen Ebene

Die USA wollen einerseits für die Internetfreiheit kämpfen und könnten gleichzeitig die Online-Überwachung im eigenen Land bald massiv ausbauen. Dies ist symptomatisch für den Westen, der seine Autorität in Sachen Schutz des Netzes gerade verspielt.

Johannes Kuhn

Internetkabel in einem Serverraum

Die Freiheit des Internets ist keine Selbstverständlichkeit - auch nicht im Westen.

(Foto: REUTERS)

Man muss nicht so weit gehen wie der streitbare Internet-Kritiker Evgeny Morozov, der am Montag die US-Regierung als einen der größten Feinde der Internetfreiheit identifizierte. Immerhin handelt US-Präsident Obama konsequenter als sein Vorgänger, wenn er nun endlich Exporteuren von Überwachungstechnik mit Sanktionen droht, sollten sie ihre Technologie an die autoritären Regime in Iran und Syrien liefern.

Dass die Positionierung der USA als Freund der Internetfreiheit aber problematisch ist, zeigt sich nur wenige Tage später. Am Donnerstag beginnt im Repräsentantenhaus die Debatte über den Cyber Intelligence Sharing and Protection Act, kurz CISPA (pdf hier). Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass private Unternehmen und der Geheimdienst NSA Informationen über Bedrohungen aus dem Netz austauschen können.

Dabei ist der Text nicht nur so vage gefasst, dass unter Cyberbedrohungen zum Beispiel auch Diebstahl geistigen Eigentums (Filesharing) fallen, er ermöglicht es in den Augen von Kritikern auch Unternehmen, Kommunikationsdaten von Nutzern an Sicherheitsbehörden weiterzugeben - "ungeachtet jeglicher anderer Gesetze", wie es in einem Passus heißt. Auch soll die NSA einer Ergänzung zufolge Web- und E-Mail-Dienste "abfangen" können.

Internetfreiheit vs. Sicherheitsbedürfnis

Nachdem sich bereits 800.000 Menschen in einer Petition gegen das Gesetz gewandt haben, hat nun auch ein Sprecher des Außenministeriums öffentlich erklärt, das Weiße Haus sei gegen CISPA. Heimatschutzministerin Janet Napolitano lässt da eine andere Meinung durchscheinen, ein weiterer Beweis für die wenig konsequente Haltung der Regierung in Sachen Überwachung: Das umstrittene Überwachungsgesetz Patriot Act, dessen Reform der Kandidat Obama versprochen hatte, verlängerte der Präsident Obama zwei Mal quasi unangetastet. Nach einem unbestätigten Wired-Bericht über die neue NSA-Zentrale in Utah baut die NSA möglicherweise gerade eine der größten Online-Abhörzentralen der Welt.

Die US-Regierung ist nicht die einzige im Westen, die Internetfreiheit und vermeintliche Sicherheitsbedürfnisse nicht unter einen Hut bekommt. Das deutsche Koalitionsringen um die Vorratsdatenspeicherung mutet noch harmlos an im Kontext der 37,3 Millionen durch Geheimdienste überprüften Datenverbindungen und E-Mails im Jahr 2010 oder den Überwachungsideen, die in der jüngeren Vergangenheit von den Regierungen Frankreichs und Großbritanniens in den Raum geworfen wurden - beides Länder, die in Selbstverständnis und Geschichte der Freiheit der eigenen Bürger stets den höchsten Wert zugestanden.

"Ein bisschen Dauerüberwachung" darf kein Standard werden

Die Beispiele zeigen ein fundamentales Problem des Westens: Er hat im Internet einen Teil der Freiheit aufgegeben, für die er moralisch stand und stehen sollte. Dies mag der berechtigten oder unberechtigten Angst vor dem Verlust der inneren Sicherheit, purem Aktionismus, der Unkenntnis des handelnden Personals oder Geschäftsinteressen geschuldet sein (US-Firmen mögen ihre Überwachungssoftware nicht mehr an Syrien liefern, in China und anderswo haben sie weiterhin gute Kunden) - im Endeffekt hat es vor allem ein Resultat: Wir verlieren unsere moralische Autorität, wenn es darum geht, die Internet-Freiheit in anderen Ländern und Regionen zu fordern.

Das ist fatal, denn so wird die schiefe Ebene des Westens noch schiefer, werden Freiheiten zur Verhandlungsmasse. Bei einer Architektur, die gerade zur Nervenbahn von Kommunikation und Leben wird, darf es keinen Minimalkonsens geben, der "ein bisschen Dauerüberwachung" zum Standard macht.

Im Grunde genommen ist es eine zutiefst konservative Aufgabe, die Bürgern und Internet-Aktivisten nun zukommt, nämlich das Netz als Kommunikationsraum zu schützen und zu verhindern, dass er zum Überwachungsraum wird. Auch und gerade in der freien Welt.

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