Internet-Guru im Gespräch:"Überlassen wir das Netz nicht Milliardären"

Yale-Professor David Gelernter gilt als einer der brillantesten Programmierer unserer Zeit - und als Technik-Visionär, dessen Prophezeiungen häufig eintreffen. Ein Gespräch über das, was kommt.

Johannes Kuhn

Das komplette Gespräch können Sie auch als MP3 nachhören.

DLD Conference 2010

Yale-Professor David Gelernter: Den Fortschritt nicht den Milliardären überlassen.

(Foto: Getty Images)

David Gelernter ist schwer zu fassen: Wer seine Biographie kennt und seine Texte liest, sieht ein Mosaik vor sich, das so nicht zusammenpassen will. Da ist der Yale-Professor, der seit fast zwei Jahrzehnten als einer der brillantesten Informatiker und Technik-Vordenker des Planeten gilt. So brillant, dass der Unabomber, der Technikhasser Theodore Kaczynski, ihm 1993 eine Briefbombe schickte, die ihn schwer an Hand und Auge verletzte.

Da ist aber auch Gelernter der Konservative, der die Debatte um Netzneutralität mit den Worten "Nennen wir es Netz-Irrationalität" abkanzelte; der wie ein seriöser Gegenpol zu den euphorischen Webevangelisten wirkt, die jeden neuen Internetdienst als kleinen Teil einer großen Idee zum Wohle der Menschheit sehen.

Und zuletzt ist da auch Gelernter der Künstler, für den die Interaktion von Menschen mit Computern auch etwas von Schönheit, Schwerelosigkeit haben muss. Als Apple den iPod-Touch herausbrachte und dabei CD-Cover virtuell durchblätterbar machte, ahmte das Unternehmen eine Idee Gelernters nach, die er bereits 1992 patentieren ließ - dies entschied zumindest ein texanisches Gericht, das ihm daraufhin im Herbst 2010 Schadensersatz in Höhe von 625,5 Millionen Dollar zusprach.

Viel Gesprächsstoff also beim Interviewtermin mit David Gelernter auf der Internet- und Medienkonferenz DLD Ende Januar: Der 55-Jährige denkt lange nach, bevor er auf Fragen antwortet und spannt in seinen Erklärungen weite Bögen. "Wir müssen eine ernsthafte Debatte darüber führen, was das Internet für uns tun soll", sagt er. Das klingt inmitten einer Horde von Jungunternehmern, die das nächste große Geschäftsmodell im Netz suchen, erst einmal überraschend nachdenklich.

Mit Konservatismus zu verwechseln ist es in diesem Falle aber nicht: "Wir denken oft, die wichtigsten, ja sogar die tiefgründigsten Ideen seien die, die am schnellsten die erste Million bringen", erläutert er und starrt in die Ferne, "Das ist toll, aber das Internet ist ein enorm mächtiges Werkzeug und die Welt wäre nicht fair zu sich selbst, sich nicht hinzusetzen und darüber nachzudenken. Überlassen wir das nicht den Milliardären, denen große Unternehmen gehören, oder den Professoren, die ihre eigenen Interessen verfolgen."

Technische Absurditäten

Gelernter beim Nachdenken zu begleiten, könnte sich auszahlen: In seinen Büchern und Essays hat er schon oft Entwicklungen skizziert, die später Realität wurden - so 1991, als er in seinem Buch Mirror Worlds das World Wide Web als Startpunkt einer umfangreichen und dezentralen Vernetzung der Menschheit identifizierte.

Diesem Internet, so argumentiert er, mangelt es in vielen Teilen an der Schönheit, die er so verehrt: "Technisch absurd" sei es, die verschiedenen Kommunikationsströme parallel verfolgen zu müssen, im Chatfenster, im E-Mail-Konto, bei Facebook oder bei Skype. Eine einzige Benutzeroberfläche, so prophezeit er, werde künftig alles zusammenlaufen lassen.

Gelernters Traum: Alles passt zusammen

Diese Idee des "Lifestreams" trägt Gelernter schon seit langem mit sich herum, noch bevor Mark Zuckerberg überhaupt auf die Idee kam, eine Plattform wie Facebook zu bauen. Dass das Portal nun der Idee des nachzeichenbaren Lebens in einem einzigen Datenstrom am nächsten kommt und die Nutzer damit in einem proprietären System gefangen sind, ist nach Gelernters Ansicht eine Übergangserscheinung.

"Der Impuls, etwas zu verändern, kommt niemals aus einem Unternehmen", erzählt er und lächelt, weil ihn seine Erfahrungen aus den vergangenen Jahrzehnten in der Branche bestätigen: Auch Microsoft hatte mit dem Betriebssystem DOS ein erfolgreiches Produkt, doch sobald Nutzer die Oberfläche von Apples Mac sahen, musste sich das Unternehmen den neuen Standards anpassen.

Heutzutage, klagt er, würden wir viel zu häufig über die Mängel im Zusammenspiel zwischen Benutzer und Computer hinwegsehen. Unterschiedliche Plattformen und Betriebssysteme, inkompatible Datenformate, verschiedene Geräte mit unterschiedlichen Konten - all das versteht der Verehrer der reibungslosen Verschmelzung zwischen Mensch und Computer nicht. "Wir brauchen eine Vereinheitlichung, ähnlich wie beispielsweise bei den Schienennetzen zwischen Deutschland und Frankreich, damit wir nicht an der Grenze die Züge austauschen müssen."

Einige Veränderungen sind nach Gelernters Ansicht schon lange überfällig: "Unsere Büroarbeitsplätze funktionieren noch nach dem Design der 40er, 50er", wundert er sich, "als würden wir noch mit der Hand schreiben oder eine Schreibmaschine benutzen." In seinen Augen sitzen wir künftig in einem bequemen Sessel, zwei Meter entfernt vom großen Flachbildschirm, die - wenn noch überhaupt vorhandene - Tastatur auf dem Schoß. "Das würde natürlich die Art zu arbeiten, fundamental verändern", schwärmt er.

Eine halbe Stunde mit David Gelernter vergeht schnell. Hier spricht kein blinder Visionär, sondern ein nachdenklicher IT-Veteran, den ein Wunsch treibt: Eine Technik, die dem Menschen dient und eine Menschheit, die sich mit dieser Technik auseinandersetzt. "Ich glaube, das Internet braucht dringend Ideen der Menschen, die nichts von den technischen Einschränkungen wissen. Die kreativsten, visionärsten Akteure in diesem Bereich sind die, die entweder die Grenzen nicht kannten oder sich nicht darum scherten."

Raum und Zeit im Web

Zum Abschluss die Frage, die Journalisten immer verleitet sind zu stellen: Was wird sich in den nächsten zwölf Monaten ändern? Wieder denkt Gelernter nach. "Es wird Klarheit darüber geben, dass es zwei Arten gibt, etwas im Netz anzuordnen", antwortet er bedächtig, "eine räumliche und eine zeitliche Ebene. Wir brauchen beides, und wir müssen den besten Weg finden, auf diese Art und Weise etwas zu erzählen, eine funktionierende Ordnung zu finden und nicht zehn unterschiedliche, die nicht miteinander kompatibel sind."

Was mysteriös klingt, könnte sich bald zu einem Mosaik zusammenfügen. Es wäre nicht das erste Mal, dass David Gelernter recht behalten hätte.

Das komplette Gespräch können Sie als MP3 nachhören, das englischsprachige Transkript finden Sie hier.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: