Süddeutsche Zeitung

Internet-Theoretiker Clay Shirky im Interview:"Politiker werden nie überflüssig sein"

Clay Shirky von der New York University gehört zu den profiliertesten Internet-Analytikern der digitalen Gesellschaft. Die Defizite der Demokratie sind für ihn vergleichbar mit Software-Problemen. Ein Gespräch über die Digitalisierung, Reibungsverluste und Profitmargen - und das Überleben der Politiker.

Andrian Kreye

Der Internet-Theoretiker Clay Shirky von der New York University ist einer der schärfsten Analytiker der digitalen Gesellschaft. In seinem Buch "Here Comes Everybody" beschrieb er, wie Wirtschaft und Gesellschaft durch die dezentralen Strukturen sozialer Netze verändert werden. In seinem jüngsten Buch "Cognitive Surplus" schreibt er über die kreativen und sozialen Kräfte, die das Netz freisetzt. Derzeit beschäftigt er sich mit neuen demokratischen Prozessen. Das Gespräch fand während der Ted Global Conference in Edinburgh statt, für die Clay Shirky den Schlussvortrag hielt.

SZ: Was kann Demokratie vom Internet lernen?

Clay Shirky: Das Streiten. Die Qualität einer Demokratie hängt immer auch von der Qualität ihrer Streitigkeiten ab. Neue Medien haben diese Qualität immer verbessert. Das war schon bei der Einführung des Buchdrucks so. Plötzlich gab es viel mehr Ideen, die in Umlauf kamen, und es gab mehr Möglichkeiten, anderer Meinung zu sein. Der nachhaltige Effekt der Druckerpresse war letztlich, dass die Leute sie dazu benutzten, um besser zu streiten.

SZ: Und das wiederholt sich nun mit dem Internet?

Shirky: Wenn es darum geht, dass wir uns mehr streiten, hat das Internet sicherlich jetzt schon einen Orden verdient. Was die Qualität der Streitigkeiten betrifft, sollte man aber nicht unbedingt das Internet im Allgemeinen betrachten. Wenn man sich aber die Arbeit der Open-Source-Programmierer ansieht, kann die Demokratie sehr viel dazulernen. Die arbeiten ähnlich wie die Wissenschaft nach dem Prinzip der Peer Reviews, der gegenseitigen Kreuzgutachten. Diese Idee, dass Wissenschaftler ihre Resultate öffentlich zur Kritik stellen, begann ja auch erst in kleinen Zirkeln und verbreitete sich erst langsam.

SZ: Ist das nicht ein bisschen abstrakt?

Shirky: Keineswegs. Kommerzielle Software taugt nicht für die Philosophie des Open Source, weil sie auf feudalen Systemen basiert. Microsoft besitzt den Quellcode und die Patente für Microsoft Office - und die wechselnden Programmierer arbeiten im Konzern. Die Open-Source-Gemeinde hatte dagegen das Problem, dass zu viele Ideen und Codes im Umlauf waren. Das führt vor allem zu Chaos. Es ist unmöglich, gemeinsam Software zu schreiben, ohne sich immer wieder aufs Neue zu einigen.

Vor einigen Jahren entwickelte Linus Torwald - die treibende Kraft hinter dem offenen Software-System Linux - ein System mit dem Namen Git. Das erlaubt es, zwei Programmierern mit unbeschränktem Zugang zum Quellcode an einer Software zu arbeiten. So entstehen zwei Versionen einer Software, wobei die Programmierer nicht einmal voneinander wissen müssen. Git führt diese Arbeiten dann zusammen.

SZ: Und wie soll man das auf die Demokratie anwenden?

Shirky: Die Open-Source-Programmierer haben gezeigt, dass man die Voraussetzungen für Zusammenarbeit extrem vereinfachen und eine Möglichkeit schaffen muss, sie auch nachträglich zusammenzuführen. So kann man auf mehr gute Ideen von mehr Leuten zugreifen und gleichzeitig das Chaos eindämmen. Das lässt sich auf die Erstellung von Gesetzestexten anwenden. Da sind die Abhängigkeiten von Texten untereinander ganz ähnlich wie die Abhängigkeiten von Softwaremodulen. Es gibt also ein ähnliches Managementproblem und gleichzeitig das demokratische Versprechen der Partizipation. Dafür gab es bisher noch kein Werkzeug. Wenn jetzt beispielsweise zwei Parteien einen Haushaltsplan erstellen, kann man diese verschiedenen Versionen zusammenführen und erkennen, wo sie sich ergänzen und wo sie wirklich divergieren.

SZ: Und dafür kann man Git verwenden?

Shirky: Es gibt schon mehrere Fälle, bei denen Git benutzt wurde, um Archive juristischer Dokumente zu verwalten. Git ist ja kein Programmierwerkzeug, sondern eigentlich ein Programm, um Texte zu verwalten, das eben auch für Programmierer taugt, weil es zeigt, wer wann welche Textzeilen geschrieben hat, wie sie sich zueinander verhalten, und der bestimmten Elementen Markierungen zuweist.

SZ: Ist das ähnlich wie die Liquid Democracy, mit der beispielsweise die Piratenpartei in Deutschland arbeitet?

Shirky: Liquid Democracy basiert auf der gleichen Idee, allerdings geht es da um Wahlverfahren. Das ist ein anderes Teil des Puzzles, bei dem es um die Legitimierung des Gewichts jedes Einzelnen geht. Mir geht es darum, die eigentlichen Texte und ihre Ausrichtungen zu erfassen.

SZ: Bräuchte man dafür noch Rechtsexperten und Gesetzgeber?

Shirky: Auf alle Fälle. Es würde nur die Debatten verändern. Und es würde deutlich, wer wann welche Gesetze initiiert und geschrieben hat. In den USA haben wir ein System, in dem organisierte kommerzielle Interessen kein Problem haben, Gesetze durchzubringen. Normalbürger haben es da nicht so leicht.

SZ: Würde das den Lobbyismus eindämmen?

Shirky: Nichts kann eine Lobby davon abhalten, zu partizipieren. Außerdem sind industrielle und kommerzielle Interessen ja durchaus gesellschaftliche Faktoren. Aber bisher konnte man nirgendwo nachsehen, wer ein Gesetz aufgesetzt und wer es gefördert hat, wie bestimme Passagen in ein Gesetz aufgenommen wurden. Wenn man das alles sichtbar macht, würde das den Bürgern zeigen, wer diese Gesetze in ihrem Namen geschrieben hat. Und die Bürger können sich entscheiden, ob sie sich einmischen oder nicht.

SZ: Brauchen wir also mehr Empörung?

Shirky: Empörung ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Mir geht es auch mehr um den politischen Prozess als um Ideologie. In Amerika sind sich die Tea Party und die Occupy-Bewegung ja in einem einig - dass sie vom politischen Prozess ausgeschlossen wurden. Wenn man diese Bewegungen aber in den politischen Prozess so integrieren kann, dass man ihnen signalisiert, hier gibt es ein Gesetz, das wir letztendlich brauchen, warum arbeiten wir nicht gemeinsam daran, dann ist das nicht ideologisch. Es würde aber die Erwartungen erfüllen, dass eine Regierung offen mit ihren Bürgern umgeht und mit ihnen in Verbindung bleibt. Beim Open-Source-Programmieren ist es ja ganz egal, wie oft man ein Projekt aufteilt, wie viele Ansätze versucht werden, wie heftig gestritten wird, zum Schluss gibt es eine Software und die muss funktionieren. Das Gesetz ist da ganz ähnlich - es gibt viele verschiedene Meinungen, aber nur ein Recht.

SZ: Aber schafft man mit neuen Verfahren nicht zunächst einmal eine neue Elite von Erstanwendern? Liquid Democracy ist zum Beispiel ein Verfahren, das für Außenstehende technisch zunächst nicht nachvollziehbar ist, auch wenn es ein Maximum an Transparenz und Partizipation garantieren soll.

Shirky: Das ist sicherlich ein Problem. Man muss das System so konstruieren, dass es nicht einfach von kommerziellen Interessen gekapert werden kann. Und man muss die Bürger dazu bringen, sich wirklich dafür zu interessieren.

SZ: Und wie kann man solche neuen Verfahren absichern?

Shirky: Das ist eine grundlegende demokratische Frage, welche die Demokratie nie besonders gut beantwortet hat - wie kann man Fehler kurzfristig vermeiden oder beheben? Demokratie war aber immer gut darin, Fehler langfristig zu beheben. Vor allem im Vergleich zu anderen Systemen. Wir müssen also nicht Leute davon abhalten, Fehler zu machen. So eine Technologie gibt es nicht. Aber wir können verhindern, dass sich systematische Fehler einschleichen, zum Beispiel durch Faktoren wie eine virtuelle Pöbelherrschaft. Das kann ein Kader von Experten, die den Kern eines solchen Projektes bilden, und die sämtliche Ideen berücksichtigen, aber nur die Ideen einfließen lassen, die der Aufgabe dienlich sind. Ich glaube nicht, dass alle zu Gesetzgebern werden sollen - aber das Gesetz ist die Summe von individuellen Forderungen.

SZ: Was wäre da ein konkretes Beispiel?

Shirky: In den USA will eine Partei die Sozialausgaben drosseln, weil die uns sonst ruinieren. Die andere Partei ist gewillt, die Steuern zu erhöhen. Es ist aber absehbar, dass wir beides tun müssen, um der Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen. Das sehen inzwischen viele ein, nur gibt es für die Einsichtigen keine Partei, die sie wählen können. Wenn man nun ein System einführen würde, bei dem die Leute an der Gesetzgebung teilhaben können, und zwar nicht nur in Umfragen, wäre das politisch sinnvoll für die Parteien, eine solche Lösung zu finden.

SZ: Würde das die Demokratie wirklich verändern, oder lediglich Verfahren optimieren?

Shirky: Man kann Gesetzestexte bis zu einem gewissen Grad immer unterschiedlich auslegen. Aber man könnte herausfinden, wo sich Gesetze widersprechen, ergänzen, wie sie sich zueinander verhalten. Das geht bisher noch nicht. Und selbst wenn man solche Prozesse nur innerhalb einer Partei anwenden würde, könnten die Bürger besser verstehen, wo die Partei steht. Oder wo die einzelnen Fraktionen stehen. Das wäre sicherlich nicht besonders gut für die Parteidisziplin. Es würde das Senioritätsprinzip aushöhlen. Aber es wäre sehr demokratisch.

SZ: Kann man das Ergebnis so einer Veränderung absehen? Der Bereich, den das Internet am deutlichsten verändert hat, ist die Kulturproduktion, und da ist man sich eher einig, dass das Internet alles schwieriger gemacht hat.

Shirky: Weil niemand die großartige Gelegenheit erkannt hat, die sich da bot. Das läuft bislang sehr undemokratisch ab. Man kann gegen den Austausch von Dateien nur vorgehen, wenn man dagegen weltweit vorgeht, man muss also einen Staat errichten, der weltweit kontrollieren und zensieren kann, was wiederum niemand nachprüfen kann. Das geht nicht, wenn man immer noch eine Demokratie bleiben will. Auf der anderen Seite könnte man sich durchaus vorstellen, dass man gegen die schlimmsten Übeltäter vorgeht, deren Firmen nur dazu da sind, davon zu profitieren, dass berechtigte wirtschaftliche Interessen ohne Bezahlung genutzt werden, wie zum Beispiel das Portal Megaupload. Die könnte man in die Knie zwingen und sich trotzdem noch in einem rechtsstaatlichen Rahmen bewegen. Stattdessen fördern Hollywood und die IP-Industrie Gesetze, die nicht mit dem zu tun haben, was die Leute wollen und gar nichts mit der Lebenswirklichkeit junger Bürger.

SZ: Aber ändert sich das Verhalten im Netz nicht längst?

Shirky: Doch, immer öfter sind die Leute bereit, zu bezahlen. Netflix, das Amazon-Modell, Spotify und Hulu gehen schon in die richtige Richtung. Die generieren kalkulierbare Umsätze.

SZ: Sind die Umsätze nicht geringer?

Shirky: Ja sicher.

SZ: Das hilft der Musikindustrie dann aber auch nicht weiter.

Shirky: Nur - es gibt eigentlich keine wirkliche "Musikindustrie". Es gibt nur ein paar Firmen, die von Geschäftsführern geleitet werden, die sich gar keine Gedanken darüber machen, ob die "Musikindustrie" sich zum Besseren wandeln kann. Wenn man denen erzählt, dass es großartige neuen Modelle gibt, fragen die nicht, "toll, und wann passiert das?". Alles was die fragen ist, "Und behalte ich meinen Job?" Darauf lautet die Antwort allerdings - nein, die Musikindustrie wird sich zum Besseren wandeln, aber Sie werden gefeuert. Die kämpfen ja nicht für Musik oder Filme oder Fernsehen an sich. Die kämpfen darum, dass sich die Strukturen ihrer Industrie nicht verändern.

Als uns Napster gezeigt hat, dass es eine universale Jukebox geben kann, dass die unglaublich populär ist und allen Alternativen überlegen, hat die Musikindustrie immer noch fünf Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass Itunes sie retten kann. Was nun kommen wird ist, dass man Musik, Filme und Fernsehen streamen wird. Man wird eine Art Abogebühr bezahlen. Und dann werden auch Seiten wie Megaupload irrelevant. Das ist ein gutes neues Geschäftsmodell für diese Industrien. Aber eine gewaltige Veränderung für die derzeitigen Geschäftsführer.

SZ: Wird das nicht auch für alle anderen in den jeweiligen Feldern eine Umstellung?

Shirky: Natürlich. Man kann da auch generalisieren - das Internet reduziert Reibungsverluste genauso wie Profitmargen. Es sind aber vor allem die Vertriebswege, die davon betroffen sind. Die Musikindustrie basierte auf einem Modell, bei dem zwölf, dreizehn Songs gebündelt auf einer überteuerten CD verkauft wurden. Drei oder vier Songs waren dann meistens gut, aber man musste für alle bezahlen. Jetzt kauft man einzelne Songs. Und es gibt Leute, die damit mehr Geld verdienen. Das sind nicht immer die gleichen, die zuvor oben waren. Das ist ein bisschen wie beim Übergang vom Stumm- zum Tonfilm. Damals waren es plötzlich ganz andere Schauspieler, die zu Stars wurden.

SZ: Ist es aber nicht vor allem der Mittelbau, der unter diesen Veränderungen leidet? Wie soll denn die Querfinanzierung funktionieren, dass beispielsweise die Pophits eines Labels die Jazzprojekte oder die Avantgardebands möglich machen? Es geht ja nicht nur um Profit.

Shirky: Auch für das Mittelfeld gibt es neue Geschäftsmodelle. Da gibt es das Fanprinzip. Bisher war man immer den Leuten hinterher, die sich kaum für einen interessieren, aber gewillt sind, ein bisschen Geld für einen auszugeben. So haben wir letztlich die Massen belohnt. Was wir jetzt sehen, ist ein Netz aus Leidenschaften. Nehmen Sie die Band Radiohead. Die verkaufen keine Stadien aus, wie U2. Aber sie können ihre Musik frei ins Netz stellen, die Leute bezahlen lassen, was sie wollen - und sie verdienen immer noch Millionen. Der Umsatz ist kleiner, aber sie bekommen dafür ja auch einen größeren Anteil. Genauso funktioniert das digitale Abo der New York Times.

SZ: Wie das?

Shirky: Die New York Times hat begriffen, dass Sie die Massen im Netz nie dazu bringen, zu bezahlen. Also haben Sie sich auf die zwei, vielleicht fünf Prozent ihrer Leser konzentriert, die sagen, was wäre die Welt ohne die New York Times? Und die bezahlen und bekommen ein wenig Mehrwert dafür. Es gibt unzählige solche Geschäftsmodelle. Nehmen Sie die Crowdfunding-Seite Kickstarter. Da ist irgendein Junge, der 300 Dollar für einen Dokumentarfilm braucht. Und die bekommt er da. Auf solchen Seiten werden inzwischen Millionen bewegt.

SZ: Die Übergangsphasen sind aber trotzdem bitter.

Shirky: Oh ja. Wenn Sie sich die Fotografen anschauen, das ist ein gutes Beispiel. Früher reichte es, sich mit einer guten Kamera, einem Stativ und ein paar Lampen irgendwo niederzulassen, dann konnte man ein Auskommen haben. Mit Hochzeitsfotos, Familienfotos, all so was. Jetzt sind überall Kameras und die Anzahl der Leute, die auf Flicker oder Instagram mit Fotografie experimentieren, ist explodiert. Fotografie ist heute viel mehr Teil der Gesellschaft als noch vor fünf Jahren. Der Beruf des Fotografen wird sich wohl nie mehr erholen.

SZ: Welche Rolle haben denn Politiker dann noch in einem so offenen System?

Shirky: Politiker werden nie überflüssig sein, weil man nur bis zu einem gewissen Grad am politischen Prozess teilhaben kann. Man wird seine Stimme immer einem Vertreter übertragen wollen. Gerade für eine komplexe moderne Gesellschaft ist es durchaus sinnvoll, dass es eine professionelle Klasse gibt, die sich mit politischen Problemen beschäftigt.

SZ: Wobei sich immer öfter legislative Fragen stellen, die nicht mehr regional oder national begrenzt sind. Sind solche offenen Systeme nicht utopisch?

Shirky: Es gibt ein großartiges Beispiel - die Kampagne gegen Landminen. Die kam aus dem Nichts und hat die Debatte in zwei Jahren vollkommen verändert. Nun ist das ein moralisch besonders eindeutiger Fall. Global Warming ist da schon schwieriger. Aber es wäre sicherlich schon ein Anfang, wenn man es den Regierungen dieser Welt leichter machen würde, zu handeln. Oder auch schwerer, nicht zu handeln.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1427867
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.07.2012/pauk
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.