Internet-Theoretiker Clay Shirky im Interview:"Politiker werden nie überflüssig sein"

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Clay Shirky von der New York University gehört zu den profiliertesten Internet-Analytikern der digitalen Gesellschaft. Die Defizite der Demokratie sind für ihn vergleichbar mit Software-Problemen. Ein Gespräch über die Digitalisierung, Reibungsverluste und Profitmargen - und das Überleben der Politiker.

Andrian Kreye

Der Internet-Theoretiker Clay Shirky von der New York University ist einer der schärfsten Analytiker der digitalen Gesellschaft. In seinem Buch "Here Comes Everybody" beschrieb er, wie Wirtschaft und Gesellschaft durch die dezentralen Strukturen sozialer Netze verändert werden. In seinem jüngsten Buch "Cognitive Surplus" schreibt er über die kreativen und sozialen Kräfte, die das Netz freisetzt. Derzeit beschäftigt er sich mit neuen demokratischen Prozessen. Das Gespräch fand während der Ted Global Conference in Edinburgh statt, für die Clay Shirky den Schlussvortrag hielt.

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Auch Gesetzestexte kann man als Software verstehen, als Betriebssystem der Gesellschaft. Hier das Kapitol während der Rede von Angela Merkel 2009.

(Foto: dpa)

SZ: Was kann Demokratie vom Internet lernen?

Clay Shirky: Das Streiten. Die Qualität einer Demokratie hängt immer auch von der Qualität ihrer Streitigkeiten ab. Neue Medien haben diese Qualität immer verbessert. Das war schon bei der Einführung des Buchdrucks so. Plötzlich gab es viel mehr Ideen, die in Umlauf kamen, und es gab mehr Möglichkeiten, anderer Meinung zu sein. Der nachhaltige Effekt der Druckerpresse war letztlich, dass die Leute sie dazu benutzten, um besser zu streiten.

SZ: Und das wiederholt sich nun mit dem Internet?

Shirky: Wenn es darum geht, dass wir uns mehr streiten, hat das Internet sicherlich jetzt schon einen Orden verdient. Was die Qualität der Streitigkeiten betrifft, sollte man aber nicht unbedingt das Internet im Allgemeinen betrachten. Wenn man sich aber die Arbeit der Open-Source-Programmierer ansieht, kann die Demokratie sehr viel dazulernen. Die arbeiten ähnlich wie die Wissenschaft nach dem Prinzip der Peer Reviews, der gegenseitigen Kreuzgutachten. Diese Idee, dass Wissenschaftler ihre Resultate öffentlich zur Kritik stellen, begann ja auch erst in kleinen Zirkeln und verbreitete sich erst langsam.

SZ: Ist das nicht ein bisschen abstrakt?

Shirky: Keineswegs. Kommerzielle Software taugt nicht für die Philosophie des Open Source, weil sie auf feudalen Systemen basiert. Microsoft besitzt den Quellcode und die Patente für Microsoft Office - und die wechselnden Programmierer arbeiten im Konzern. Die Open-Source-Gemeinde hatte dagegen das Problem, dass zu viele Ideen und Codes im Umlauf waren. Das führt vor allem zu Chaos. Es ist unmöglich, gemeinsam Software zu schreiben, ohne sich immer wieder aufs Neue zu einigen.

Vor einigen Jahren entwickelte Linus Torwald - die treibende Kraft hinter dem offenen Software-System Linux - ein System mit dem Namen Git. Das erlaubt es, zwei Programmierern mit unbeschränktem Zugang zum Quellcode an einer Software zu arbeiten. So entstehen zwei Versionen einer Software, wobei die Programmierer nicht einmal voneinander wissen müssen. Git führt diese Arbeiten dann zusammen.

SZ: Und wie soll man das auf die Demokratie anwenden?

Shirky: Die Open-Source-Programmierer haben gezeigt, dass man die Voraussetzungen für Zusammenarbeit extrem vereinfachen und eine Möglichkeit schaffen muss, sie auch nachträglich zusammenzuführen. So kann man auf mehr gute Ideen von mehr Leuten zugreifen und gleichzeitig das Chaos eindämmen. Das lässt sich auf die Erstellung von Gesetzestexten anwenden. Da sind die Abhängigkeiten von Texten untereinander ganz ähnlich wie die Abhängigkeiten von Softwaremodulen. Es gibt also ein ähnliches Managementproblem und gleichzeitig das demokratische Versprechen der Partizipation. Dafür gab es bisher noch kein Werkzeug. Wenn jetzt beispielsweise zwei Parteien einen Haushaltsplan erstellen, kann man diese verschiedenen Versionen zusammenführen und erkennen, wo sie sich ergänzen und wo sie wirklich divergieren.

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