Internet-Szene:Wie Berlin Europas Hauptstadt der Start-ups wurde

Berlin zieht Jungunternehmer aus ganz Europa magisch an: Tausende Kreative machen "irgendwas mit Internet" - und immer mehr verdienen sogar Geld damit. Selbst das Silicon Valley nimmt vom Gründungsboom Notiz.

Varinia Bernau

Da stand diese Frau im Laden eines Freundes. Sie zeigte auf ein Foto in der Vogue und sagte: Das Kleid will ich. Aber es gab dieses Kleid nicht. Nicht in Berlin und nirgendwo sonst. Das war vor mehr als einem Jahr. Heute könnte ihr Martin Genzler das Kleid besorgen.

Berlin Städtetipps von SZ-Korrespondenten Fernsehturm Alexanderplatz

Start-ups unterm Fernsehturm: Berlin gilt derzeit als bestens geeignet, um Internet-Unternehmen zu gründen. Doch die neue Generation hat aus den Fehlern der alten gelernt.

(Foto: dpa)

Der 35-Jährige hat gemeinsam mit drei Partnern eine virtuelle Luxusboutique kreiert: Couture Society. Dort gibt es all das, was einmal über den Laufsteg geschickt wurde, aber nie in Produktion ging, weil es zwar die Modejournalisten, nicht jedoch die Einkäufer der Boutiquen überzeugt hat.

So wie das Kleid aus der Vogue. Etwa die Hälfte der Modelle, die auf einer Modeschau gezeigt werden, gelangen nach Genzlers Schätzungen nie in den Handel. Eine riesige Lücke klaffe zwischen dem, was Kreative entwerfen und was sechs Monate später in den Läden hänge. Genau in dieser Lücke tummelt sich Genzler. Vielmehr: Er versucht es seit einer Weile.

Couture Society ist nur eines von vielen Start-ups in Berlin. Mittlerweile, so schätzen Branchenbeobachter, machen in der Hauptstadt 3000 bis 4000 Menschen pro Quadratkilometer irgendwas mit Internet. Und immer mehr verdienen damit auch Geld.

"Berlin is the place to be"

Was haben sie nicht immer gejammert: Dass es in Deutschland an Leuten wie Mark Zuckerberg fehlt, dem Gründer des Online-Netzwerkes Facebook. An jungen Kreativen, die tolle Ideen haben - und auch den Drang, sie umzusetzen. Und an Investoren, die an die neuen Ideen glauben und ihnen mit Risikokapital den Rücken stärken. Eher unbemerkt ist während der vergangenen zwei Jahre mitten in der Republik eine bunte Start-up-Szene entstanden. Berlin is the place to be, so schreiben es selbst Blogger aus dem Silicon Valley.

Ausgerechnet Berlin. Wer das große Geld suchte, der ging nach Frankfurt, nach Hamburg und nach München. Dort funktionierte alles. Mancher würde auch sagen: Dort war alles immer schon fertig, manchmal auch träge. Wer sich ausprobieren wollte, der ging nach Berlin. Arm, aber sexy. So formulierte es einst Klaus Wowereit - besser als der Regierende Bürgermeister hat nie einer zuvor den entscheidenden Standortvorteil für junge Internetunternehmer beschrieben.

Soll Londons Bürgermeister doch schnelle Internetleitungen im East End verlegen. Wowereit tut nichts - und trotzdem tummeln sich in seiner Stadt die Kreativen. Hier müssen sie für die Miete eben auch nur einen Bruchteil dessen zahlen, was in London fällig wäre. Und inzwischen kommen auch Investoren, weil sie an viele der Ideen glauben, die in Berliner Hinterhöfen gesponnen werden.

Aus dem Rausch gelernt

Zehn Jahre nach dem Platzen der Internetblase hat ein neues Selbstbewusstsein die Gründerszene erfasst. Vielleicht brauchte es diese Testphase. Vielleicht mussten sie sich erst einmal in Berlin damit begnügen, das, was im Silicon Valley entwickelt wurde, für den deutschen Markt zu kopieren.

Und vielleicht war auch der anschließende Kater nötig, um wirklich zu begreifen, dass viele um die Jahrtausendwende einem Rausch erlegen waren. "Damals, das war der börsennotierte Wahnsinn", sagt Genzler. Heute wird genau kalkuliert. Lange Zeit haben er und seine Kollegen noch eine Werbeagentur betrieben, während sie die virtuelle Luxusboutique aufbauten.

Warum es inzwischen Gründer aus ganz Europa nach Berlin zieht

Noch wird Couture Society als Marke der Agentur geführt. "Irgendwo müssen wir ja das Geld verdienen, das wir ausgeben", sagt er lachend. Die Agentur geben sie demnächst auf. Um Couture Society hat er sich auch deshalb mit so viel Leidenschaft gekümmert, weil es eine Abwechslung zum Agenturalltag ist. Genzler weiß, wie spannend Neues sein kann. Aber er weiß auch, wie viel Schlaf einem das raubt.

Es gab Momente, in denen ihn der Mut auch mal verlassen hatte. Momente, in denen er Fahrten zu Modeschauen, Fotoshootings der Kollektionen aus der eigenen Tasche bezahlt hatte - und dann aber das Geld fehlte, um mit Anzeigen in Modeblogs die notwendige Aufmerksamkeit für das Portal zu schaffen. "Wir sind einige Monate immer knapp an der Null vorbeigeschrammt." Nein, ernsthaft aufgeben wollte er nie. Aber zumindest im Scherz hat er dann zu den anderen gesagt, er wolle sich nun vielleicht doch mal auf dem Arbeitsmarkt umschauen.

Die neue Gründergeneration wirkt reifer als die vorangegangene. Genzler ist keiner dieser Aufschneider, die einem um die Jahrestausendwende erzählten, dass sie da an was ganz Großem dran sind. Genzler ist jemand, der Schokoriegel und etwas Obst zum Gespräch auf den Tisch stellt - und anschließend noch ein wenig Schokolade mitgibt, wenn er sieht, dass man nicht zugegriffen hat.

Wenn er von all den Vorbereitungen für Couture Society spricht, dann leuchten seine Augen. Dann wirkt er wie ein kleiner Junge, der von einer abenteuerlichen Ferienreise berichtet. Wie er zu Designern nach Paris gefahren ist, mehr als 30 Termine in fünf Tagen. Wie er im Showroom des Designers Valentino am Place Vendôme war. Wo die Modells auf Abruf bereitstehen, für die ganz großen Einkäufer. "Denen war schon klar, dass da mit uns keine riesigen Aufträge rausspringen, aber die fanden unsere Idee toll."

Von 160.000 auf 20 Millionen

Auch Jens Begemann stapelt lieber zu tief als zu hoch. Und hat nebenbei sein Spieleunternehmen Wooga zu einem der erfolgreichsten Anbieter von Onlinespielen gemacht. Für Leute, die in sozialen Netzwerken wie Facebook kleine Denkübungen absolvieren oder sich mit Monster balgen wollen. Mit zwei Partnern und 160.000 Euro Erspartem hat Begemann losgelegt. Inzwischen, knapp drei Jahre später, hat er mehr als 100 Mitarbeiter - und in zwei Finanzierungsrunden mehr als 20 Millionen Euro bei Risikokapitalgebern eingesammelt.

Nur ein Zehntel der Spieler kommt aus Deutschland. Wooga steht damit auch für die neuen Ambitionen der Gründer: Deutschland reicht ihnen nicht. Die Welt ist der Markt. Begemanns Mitarbeiter kommen aus mehr als 20 Ländern. Er wollte kein deutsches Unternehmen, er wollte von Anfang an ein internationales, sagt er. Manchen guten Programmierer, erzählt er, habe er nicht eingestellt, weil dessen Englisch-Kenntnisse nicht ausreichten.

Dass er trotzdem gute Leute findet, das liegt nicht zuletzt daran, dass das Büro in Berlin ist. Die Stadt liegt in der Mitte von Europa - und hat damit für die Kreativen des Kontinents einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Silicon Valley: Wer will, kann am Wochenende in die alte Heimat pendeln. Die beiden Schweden, die die virtuelle Musiktauschbörse Soundcloud gegründet haben, fanden Berlin inspirierender als Stockholm. Bei dem Wettportal Crowdpark arbeiten viele Entwickler aus Polen.

"Es geht um den Austausch"

International besetzte Teams schafften es leichter, eine Brücke in andere Märkte zu schlagen", sagt Maximilian Claussen vom Risikokapitalgeber Earlybird. Sein Büro liegt unweit vom Café Oberholz, an der Silicon Allee, wie sie die Gegend um den Rosenthaler Platz in Berlin Mitte nennen.

Neulich, als Claussen im Münchner Büro von Earlybird war, ist ihm noch einmal bewusst geworden, wie sich die Gründerszene in den vergangenen zwei Jahren verändert hat: In München residiert man an der Maximilianstraße, es ist ein Büro mit langem Holztisch und Lederstühlen. In Berlin hat Claussen sich in eine ehemalige Tanzschule eingemietet. Der Besprechungsraum ähnelt einer Arena. Und Claussen findet das ziemlich passend: Man lehnt sich eben nicht zurück - und lässt die Leute liefern, sagt er. "Es geht um den Austausch."

128 Millionen Euro hat Earlybird in den vergangenen vier Jahren in junge Internetunternehmen investiert. Ein Viertel davon ist nach Berlin geflossen. In Hamburg, wo Claussens Schreibtisch bis zum Frühjahr stand, hat er sich einmal im Monat mit Leuten aus der Gründerszene getroffen, in Berlin führt er an jedem zweiten Tag Gespräche. Im Sommer sollen auch seine restlichen Kollegen von der Elbe an die Spree wechseln. Als jemand, der auf der Suche nach den Geschäftsideen von morgen ist, muss man nah dran sein an der Gründerszene.

Institutionelle Investoren sind noch selten. Aber sie kommen. Auch aus dem Silicon Valley schauen sie sich hier um. Es ist leichter geworden für Gründer an Risikokapital zu kommen.

"Das Ding zum Fliegen bringen"

Und zugleich sind auch die Kosten für ein Internetunternehmen seit der Jahrtausendwende deutlich gesunken. Wo ein Start-up vor zehn Jahren noch eigene Großrechner aufstellen musste, kann es heute Speicherplatz und Rechenleistung nach Bedarf übers Internet mieten.

Genzler brauchte zwei Millionen, um "das Ding zum Fliegen zu bringen", wie er sagt. Gerade haben er und seine drei Partner zwei Investoren für Couture Society gefunden. 38 Modelabels sind inzwischen mit an Bord. Er wird sich noch daran gewöhnen müssen, wieder angestellt zu sein, gibt er zu. Daran, dass auf seinem Konto ein regelmäßiges Gehalt landet. Aber auch daran, dass er bei Couture Society nicht immer das letzte Wort hat.

In einer fünfteiligen Serie wird die SZ die Berliner Gründerszene verfolgen. Nächste Woche: Der Seriengründer.

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