Internet-Gesellschaft:Wie wir uns im digitalen Zeitalter erinnern

Mail statt Brief, Blog statt Tagebuch: Wie verändern digitale Aufzeichnungen unser Erinnern? Eine Spurensuche

Johan Schloemann

George Orwell schreibt im Jahre 1946: "Einer Autobiografie ist nur zu trauen, wenn sie etwas Schändliches enthält. Ein Mann, der eine gute Darstellung seiner selbst präsentiert, lügt wahrscheinlich, denn jedes Leben, von innen betrachtet, ist einfach eine Serie von Niederlagen."

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Viel Platz auf wenig Raum: Das digitale Gedächtnis ändert auch unseren Blick auf die eigene Lebensgeschichte.

(Foto: iStock)

Es muss und wird nicht jeder ganz so düster auf seine eigene Lebensgeschichte blicken. Aber Orwells Warnung wirft ein kaltes Licht auf eine universelle Eigenschaft unseres autobiografischen Gedächtnisses: nämlich die Anpassung der Erinnerung an Bedürfnisse der Gegenwart. Die Psychologie verwendet für solche Vorgänge den Begriff des "Rückschaufehlers".

Wer auf die Fülle seiner Erlebnisse zurückblickt, auf die großen Kleinigkeiten der Kindheit, auf Beruf, Familie und Liebesleben, auf Prüfungen und den gleichzeitigen Gang der Welt, der neigt zu einer Verfälschung des Erinnerten. Zufälligkeiten, Widrigkeiten und Brüche werden nachträglich in einen Sinnzusammenhang gebracht; die persönliche Entwicklung wird von hinten mit Zwangsläufigkeit versehen, während sie von vorne nicht viel mehr Sinn ergibt, als dass das Leben eben weitergeht.

Die Lebenserfahrung und zahlreiche Gedächtnisstudien zeigen, dass die autobiografische Erinnerung dabei versucht, unangenehme Erlebnisse und Gefühle - die "Serie von Niederlagen" also - als Bestandteile der Erzählung auszublenden.

Das heißt: Früher war alles besser. Gewiss, es gibt auch die Miesepeter, für die ihre Erinnerung ein einziges Jammertal ist; doch für gewöhnlich picken wir uns die Rosinen unseres Lebens in teleologischer Absicht heraus und suchen das Glück auch in unseren Entbehrungen.

Vergangenheit lähmt die Gegenwart

Dies hat wahrscheinlich gehirnorganisatorische und evolutionsbiologische Gründe, denn zu viele schlechte Erinnerungen könnten den Menschen belasten, bis zur Handlungsunfähigkeit. Ohne Selektion in der Vergangenheit wird die Gegenwart gelähmt.

Walter Benjamin sprach blumig von der "Penelopearbeit des Eingedenkens", auf die Gattin des Odysseus anspielend, die zehn Jahre auf ihn wartete und das Produkt ihrer Webstuhlarbeit immer wieder auflöste und immer neu begann.

"Oder sollte man", fügte Benjamin hinzu, "nicht besser von einem Penelopewerk des Vergessens reden?" Der Washingtoner Psychologe Anthony G. Greenwald spricht etwas brutaler vom "totalitären Ich", welches zugunsten der Identitätsstärkung Unliebsames der Zensur unterwirft.

Der Rückschaufehler ist in besonderer Weise ein Phänomen der Mündlichkeit - ob nun ein alter Mann von früher erzählt oder ob eine ganze schriftlose Kultur ihre Geschichte als Mythos konstruiert. Anders wird es, wenn das Medium der Schrift auftaucht.

Erinnerung in einem Echtzeit-Medium

Schriftliche Aufzeichnungen externalisieren das Gedächtnis. Auch sie sind vor Verfälschung nicht gefeit, doch tendenziell wirkt die Schrift als Mittel gegen eine retrospektive Idealisierung. Die Konstruktion der Lebensgeschichte wird durch realistischere Quellen des Selbst gestört und korrigiert.

Jemand bekommt beispielsweise aus dem Nachlass seiner verstorbenen Schwester Briefe in die Hand, die er vor Jahrzehnten an sie geschrieben hat. Darin ist voller Leidenschaft von einstigen Bekanntschaften die Rede, aus denen später nichts wurde; oder von peinlichen Streitigkeiten mit den Eltern. Durch die Lektüre werden dann plötzlich Gefühle und Konstellationen wieder lebendig, die lange Zeit wie ausradiert waren.

Oder jemand führt ein Tagebuch und versucht mit seinen sprachlichen Mitteln, das Fluidum des Alltags in Schriftform zu fassen - wenn er das später liest, wird ihm auch Solches wieder zu etwas Eigenem, was auf den ersten Blick wie von einem Fremden geschrieben zu sein scheint.

Auch Briefe und Tagebücher können verlegt und verloren werden, doch der physische Speicher des Papiers hält vieles davon präsent, auch dann, wenn eine Schublade lange nicht geöffnet wird.

Hier tritt nun mit digitalen Medien tatsächlich ein fundamentaler Wandel ein. Wir schreiben zwar nicht unbedingt weniger, im Gegenteil, auf dem Feld der kürzeren Mitteilungen gibt es eine Explosion des Schriftgebrauchs im Internet. Die Speicherung indes ist vielfach ephemer, und das Gefühl der Flüchtigkeit des Speichers wirkt sich wiederum auf das Schreiben selber aus.

Wir wechseln die Firma, oder wir kaufen uns alle paar Jahre einen neuen privaten Computer - es ist jeweils ein Neuanfang mit neuer Benutzeroberfläche, und so erscheint es uns meistens unnötig, die alten E-Mails mit hinüberzunehmen. Wir schreiben Einträge bei Facebook, die teilweise den Charakter klassischer Tagebuchnotizen oder Gedankenhefte tragen, wir schreiben manchmal mit Bedacht formulierte Liebes-SMS - doch der Konversationston des papierlosen Echtzeit-Mediums befreit uns wenn nicht von der Sorgfalt des Formulierens, so doch in jedem Fall von der Erwartung, diese schriftlichen Äußerungen könnten dauerhaft aufbewahrt werden.

Distanzüberwindung im Moment

Die Schrift ist einst zu zwei Zwecken erfunden worden: zur Bewahrung von Wissen über den Moment hinaus und zur Überwindung geografischer Distanzen. Nur noch die zweite Funktion, Distanzüberwindung, steht im elektronischen Austausch im Vordergrund, während das Meiste dort nur für den Moment geschrieben wird.

Elektronische Netzwerke wirken damit einerseits auch ungemein befreiend: Lauter überflüssige oder temporäre Informationen werden gar nicht erst materiellen Speichern aufgebürdet - Alltagspapierkram, den man ja früher auch weggeschmissen hätte. Umziehen wird einfacher.

Doch zugleich schwindet die Hoffnung, dass der zeitliche Aufwand für das private Schreiben, dass die Mühe differenzierten Formulierens auch bei scheinbar unwichtigen persönlichen Dingen den Preis wert sein könnte: einen Preis nämlich, der aufgewogen werde durch das intensivere Erleben familiärer und freundschaftlicher Beziehungen, durch die sprachliche Bemeisterung von Fürsorge und Geselligkeit sowie durch den persönlichen Erinnerungswert der Schriftstücke, die einst ein Teil der je eigenen Biografie waren und gewisse Überlieferungen auch über die Generationen sicherten.

Die Handschrift verschwindet

Noch die heute 40-Jährigen haben in ihrer Jugend Briefe geschrieben. Das ist mehr oder weniger vorbei. Nun bringt es überhaupt nichts, den Untergang von Tagebuch und Briefkultur zu beklagen, denn dieser Untergang ist längst ein mediengeschichtliches Faktum. Es könnte, meint der Internet-Theoretiker Jay David Bolter von der Georgia Tech in Atlanta, "unsere Kultur durchaus dabei sein, ganze Gruppen oder Arten von Texten zu verlieren". Auch die frühere Verbindung von "Handschrift und Charakter" (Ludwig Klages) ist passé - von vielen Kollegen und Freunden wissen wir heute gar nicht mehr, wie ihre Handschrift aussieht. Stattdessen steht auf dem Bildschirm "hdl" - für "Hab Dich lieb".

Fruchtbarer als das Jammern darüber dürfte es sein, die Veränderungen des privaten Schreibens aufmerksam zu beobachten. Mit halböffentlichen Blogs - halböffentlich deshalb, weil private und öffentliche Belange dort gemischt werden, und weil die Leserschaft oft eher klein ist - entstehen ganz neue Textformen für persönliche Identitätsbildung; Emotionalität und gesteigerte Gegenwart im Internet sind vielleicht entfernte Nachfahren der tränenreichen Briefkultur der Epoche der Empfindsamkeit.

Durch Vernetzung entstehen auch wieder neue Erinnerungsprojekte. Zugleich könnte die geringere Haltbarkeit der digitalen Speicher - beziehungsweise die geringe Sorge darum - dazu führen, dass das autobiografische Gedächtnis weniger Korrekturen durch Schriftquellen erfährt, dass also die gnädige Idealisierung der eigenen Lebensgeschichte wieder stärker zu ihrem Recht kommt.

Wer weiß, vielleicht werden die Menschen dadurch am Ende ihres Lebens unwissender, aber glücklicher.

Weitere Artikel zur Erinnerung im digitalen Zeitalter lesen Sie in der aktuellen Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung.

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