Es geht um Beispiele: um kleine Episoden und um erstaunliche Geschichten, die als Beleg für die eine oder andere These gelten. Malcolm Gladwell ist einer der besten Beispielerzähler der Welt.
Seine illustrativen Episoden entwickeln einen enormen Sog, sie unterfüttern seine Thesen und sorgen dafür, dass seine Bücher (Blink, Tipping Point) zu Bestsellern werden. Die letzte Beispielgeschichte, die Gladwell erzählt hat, stammt aus dem Jahr 1960 und handelt von Studenten im US-Bundesstaat North Carolina. Gladwell erzählt, wie sich dort eine politische Protestbewegung gegen die Rassentrennung formte. Die Geschichte steht in der aktuellen Ausgabe des New Yorker, sie dient Malcolm Gladwell als Beweis dafür, dass Menschen wie Clay Shirky unrecht haben.
Clay Shirky kann auch tolle Beispielgeschichten erzählen. Der Medienwissenschaftler der New York University sammelt diese Episoden, weil er an einer sehr großen Geschichte schreibt: Clay Shirky versucht zu benennen, wie die Digitalisierung die Vorstellung von Medien, Politik und Gesellschaft verändert. Shirkys Episoden sollen vor allem illustrieren, wie gut diese Veränderungen sind.
Seit vergangener Woche nun treten die Beispiele von Gladwell und Shirky gegeneinander an. Es geht um die politische Bedeutung von Social Media. Damit bezeichnet man jenen Teil des Internets, der auf Dialog und sozialen Austausch ausgelegt ist.
Twitter und Facebook sind die bekanntesten Angebote für diese Entwicklung, die die vormals passiven Konsumenten zu Prosumenten macht, also zu Teilnehmern, die gleichermaßen produzieren und konsumieren. Shirky hat in seinem Buch Here comes everybody beschrieben, wie Menschen sich mit diesen Techniken organisieren, ohne dafür klassische Organisationen nutzen zu müssen.
Half Twitter den Iranern wirklich?
Gladwell kritisiert nun genau diesen Punkt, er glaubt, politische Bewegungen brauchen klassische Organisationen. Die flachen Hierarchien der vernetzt Aktiven seien für eine echte Bewegung eher hinderlich. Deshalb könne man in Bezug auf Twitter und Facebook nicht von echtem Engagement sprechen.
Den Beleg für diese These sucht Gladwell ausgerechnet in dem Beispiel, das Menschen wie Clay Shirky gerne nutzen, um die politische Kraft der sozialen Medien zu beweisen: die demokratischen Demonstrationen in Iran im Sommer 2009, die angeblich dank Twitter überhaupt erst möglich wurden.
Stimmt nicht, sagt Gladwell und fragt ketzerisch: Wieso hätten die Menschen in Teheran ihren Protest auf Englisch unter dem Schlagwort "iranelection" organisieren sollen und nicht in ihrer Landessprache Farsi? Die Geschichte vom iranischen Protest sei vielmehr ein westlicher Medienhype.
Für echten Protest, so argumentiert Gladwell weiter, komme es nicht auf die schwachen Bindungen der sozialen Netze an, sondern auf echte Freundschaften, auf belastbare Bindungen. Schließlich - und dann folgt eine typische Beispielepisode aus Gladwells Erzählrepertoire - hätten im Jahr 1989 in der ehemaligen DDR gerade mal dreizehn Prozent der Menschen überhaupt ein Telefon gehabt. Trotzdem oder gerade deswegen sei es ihnen geglückt, ein System zu stürzen - ohne Vernetzung und schwache Bindungen, sondern weil sie ein risikoreiches Engagement eingegangen sind.
Das wiederum sei in sozialen Netzen eher selten, schreibt Gladwell und führt zum Abschluss eine Beispielgeschichte vor, die Shirky in seinem Buch erzählt hatte. Sie handelt von einem verlorenen Handy und dem spontanen Engagement von Wallstreetbankern, die sich vernetzten, um das Telefon zurückzubekommen. Das wirkt im Vergleich zu den friedlichen Demonstrationen in Leipzig wie Kinderkram - und soll es auch.
Doch diese Beispielgeschichten sind nicht nur deshalb so beliebt, weil sie zu rhetorischen Tricks einladen. Sie helfen vor allem, die sich rapide verändernde Welt zu erschließen. Denn Züge, in denen man sitzt, kann man schlecht beim Fahren beobachten.