"Immersive Journalism":Die Illusion ist perfekt

So etwas wie die virtuelle Welt von Nonny de la Peña hat es dagegen bisher noch nicht gegeben. Sie ist emotional viel berührender, weil mehr Sinne beteiligt und Ablenkungen von außen nahezu ausgeschaltet sind. Vor allem, dass man frei umherlaufen kann, dass jede Bewegung des eigenen Körpers verzögerungsfrei auf die künstliche Umgebung übertragen wird, lässt einen tatsächlich eintauchen in die Geschichte. Man übersieht beinahe, dass sowohl die nachgebildete Umgebung wie auch die Avatare der Menschen vor der Kirche ziemlich stark vergröbert dargestellt sind - mehr war wegen der begrenzten finanziellen Möglichkeiten nicht drin. Je realistischer eine solche Szene dargestellt werden soll, desto mehr Rechenkraft ist vonnöten. Dennoch ist die Illusion noch so perfekt, dass immer ein Mitarbeiter des Teams mitgehen und aufpassen muss, dass man nicht an eine Wand des realen Gebäudes stößt.

Nonny de la Peña, die an der Annenberg School for Communications and Journalism der University of Southern California zurzeit ihre Doktorarbeit macht, ist keine Anfängerin. Dokumentarfilme hat sie gedreht und Artikel im Time Magazine, in der New York Times und anderen renommierten Blättern veröffentlicht. Der Erfolg von "Hunger in L.A." hat sie selbst überrascht. Sie erwartete zwar, dass die Menschen beeindruckt sein würden. Schließlich hatte sie bei einem Vorgängerprojekt - einer dem Gefangenenlager Guantanamo nachempfundenen Verhörszene - schon erlebt, wie sich die Teilnehmer mit ihrem Avatar identifizierten, obwohl sie den bloß auf dem Bildschirm sahen. Aber nach dem virtuellen Rundgang vor der Kirche waren die meisten Leute richtig geplättet, überwältigt von dieser Szene: "Viele haben geweint", erzählt die Journalistin. Der emotionale Schock ist durchaus beabsichtigt: "Immersive Journalism will nicht bloß die Fakten präsentieren, sondern die Möglichkeit bieten, sie selber zu erfahren." De la Peña glaubt, dass die Grenzen zwischen Dokumentation und Animation mehr und mehr verschwimmen werden. Sie bildet zwar die Wirklichkeit nur nach, aber auch scheinbar objektive Bilder seien schließlich oft gefälscht.

Werden wir - oder vielmehr unsere digitalen Abbilder - also schon bald mit Lola um die Wette rennen, werden wir wie im 3-D-Film "Avatar" die Kultur fremder Zivilisationen aus der Nähe beobachten oder wie der Zauberlehrling Harry Potter längst vergangene Ereignisse erleben, als wären wir wirklich dabei? Einige technische Entwicklungen weisen tatsächlich in diese Richtung. Verschiedene Hersteller, darunter auch Zeiss, arbeiten an Virtual-Reality-Headsets, die es möglich machen, in künstlich geschaffene 3-D-Welten abzutauchen. Auch mit holografischen Projektionen lässt sich ein ähnlicher Effekt erzielen. Noch allerdings ist der Aufwand hoch, solche Welten zu schaffen.

Eineinhalb Jahre Entwicklungszeit für fünf Minuten

Eineinhalb Jahre Entwicklungszeit hat die Journalistin für das nur ein paar Minuten lange Projekt "Hunger in L.A." gebraucht, auch weil sie sich selbst beibringen musste, 3-D-Figuren mit Software zu programmieren, die man für Computerspiele verwendet. Sie hat eigenes Geld investiert, hat bei Firmen gebettelt. Nun, nach dem Erfolg von "Hunger in L.A.", ist es leichter für sie geworden, an Geld für neue Projekte zu kommen. Unter anderem gehört sie zu den Stipendiaten des AP-Google-Scholarship und hat dadurch bessere Möglichkeiten.

Auch das dafür geplante Projekt beleuchtet wieder ein brennendes inneramerikanisches Problem: Es geht um das Schicksal des 35 Jahre alten Mexikaners Anastasio Hernandez-Rojas, der im Juni 2010 von Beamten der US-Grenzpolizei so lange geprügelt und mit Elektroschocks traktiert worden war, bis er starb. Hernandez-Rojas war schon als Teenager illegal eingewandert, hatte 20 Jahre in San Diego gelebt. Nachdem er seine Mutter besucht hatte und wieder illegal über die Grenze schlüpfen wollte, erwischten ihn die Grenzer. Zeugen hatten das Geschehen damals mit Handys aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen. Das erlaubt es Nonny de la Peña, die Szene realistisch nachzustellen. Es wird, das kann man schon jetzt sagen, nur schwer zu ertragen sein.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: