Süddeutsche Zeitung

Gesundheits-Apps:Überleben ist wichtiger als Datenschutz

Deutschland hat die digitale Revolution im Gesundheitswesen bislang verpennt - im Namen des Datenschutzes. Das schadet vor allem den Patienten.

Kommentar von Guido Bohsem

Die elektronische Gesundheitskarte kann inzwischen als allerbestes Beispiel dafür dienen, wie Deutschland in vielen Feldern die erste Halbzeit der digitalen Revolution verschlafen hat. Zwar hat der Bundestag sie vor über zehn Jahren beschlossen - lange bevor das erste iPhone auf den Markt kam. Doch weder die lange Zeit noch Ausgaben von einer Milliarde Euro haben der Karte zu einem Erfolg verholfen.

Was für ein Versäumnis, was für eine verpasste Chance! Man stelle sich nur vor, wenn der Plan eines vollständig vernetzten Gesundheitssystems heute schon verwirklicht wäre, wenn jeder Arzt die Krankenakte eines Patienten einsehen und diesen entsprechend besser behandeln könnte, wenn es ein elektronisches Rezept gäbe und nicht mehr auf Papier. Der Nutzen für die Patienten wäre enorm, die wirtschaftlichen Möglichkeiten ebenso.

Datenschutz als Killerargument

Gescheitert ist das Vorhaben an den Ränkespielen der mächtigen Interessensgruppen im Gesundheitssystem. Vor allem die organisierte Ärzteschaft hat von Anfang an gegen die Karte agitiert und dabei vor allem das Argument des Datenschutzes bemüht. Doch obwohl die meisten Befürchtungen berücksichtigt wurden, ist der Datenschutz in Sachen Gesundheitskarte zum Killerargument geworden. Er genießt höhere Priorität als die Interessen der Patienten. Die Angst vor einem Missbrauch der Daten bremst die Karte und sinnvolle Neuerungen aus.

Das ist misslich für all jene Patienten, denen dadurch eine bessere Behandlung verwehrt wird. Denn über die elektronische Gesundheitskarte könnte man zum Beispiel eine Art persönliches Medikamentenverzeichnis etablieren. Jedes Mal, wenn ein Arzt einem Patienten eine Arznei verschreibt, würde sie dort aufgeführt. So könnten Mediziner und Apotheker jederzeit kontrollieren, ob sich die Medikamente untereinander vertragen oder welche Auswirkungen es hat, wenn ein weiteres verschrieben wird. Weil die Gesundheitskarte aber nicht kommt, führt die Koalition diesen Medikationsplan jetzt in Papierform ein - eine analoge, unzureichende Lösung, die ausgerechnet im neuen E-Health-Gesetz vorgesehen ist, das die Medizin digitalisieren helfen soll.

Gesundheit geht vor absoluter Privatsphäre

Der Datenschutz kommt auch medizinischen Anwendungen in die Quere. Zum Beispiel, als es in einem Forschungsprojekt darum ging, den Wasserhaushalt von Patienten mit einem gerade überstandenen Herzinfarkt zu überwachen. Eine elektronische Badematte jedenfalls, mit der die Zahl der Toilettenbesuche und das Gewicht festgehalten und übermittelt hätte werden können, durfte zum Schutz der Daten nicht zur Anwendung kommen. Auch ein ausdrückliches Einverständnis der Herzkranken ändert daran nichts.

Damit erklärte man im Prinzip einem Patienten in einem mit Ärzten unterversorgten Gebiet, dass er seine Chance auf ein höheres Überleben nicht nutzen kann, weil der Datenschutz dagegen spricht. Geht das? Kann man einem Kranken wirklich sagen, dass seine Gesundheitsdaten eben so sensibel sind, dass sie geschützt gehörten, egal was? Nein!

Der strenge Datenschutz verliert seinen Sinn, wenn er den sinnvollen neuen Möglichkeiten der digitalen Medizin im Weg steht. Können Untersuchungen oder Behandlungen deshalb nicht durchgeführt werden, darf sich der kranke Patient zu Recht vernachlässigt und verlassen fühlen. Dass seine informationelle Selbstbestimmung gestärkt wird, dürfte er eher als nebensächlich empfinden.

Die digitale Revolution wird unsere medizinische Versorgung verändern

Das Verhältnis von Datenschutz und dem Nutzen der digitalen Medizin muss deshalb neu bewertet werden. Schon jetzt stimmen jeden Tag Millionen Nutzer von Gesundheit- und Lifestyle-Apps entschieden darüber ab. Sie suchen Hilfe über ihre elektronischen Geräte. Um die Daten sorgen sie sich nicht. Sie wollen eine schnelle technische Lösung für ihr Anliegen. Schon bald werden diese Nutzer von Gesundheit-Anwendungen zu ihrem Arzt gehen und verlangen, dass er die Aufzeichnungen für seine Diagnose nutzt.

Das kann man falsch finden, und manche Angebote sind tatsächlich fragwürdig. So will eine private Krankenversicherung niedrigere Prämien für denjenigen anbieten, der sich per Smartphone in seiner Lebensweise kontrollieren lässt - beim Sport, bei der Ernährung, der gesamten Lebensweise. So etwas geht zu weit.

Aufzuhalten ist die digitale Revolution aber nicht. Sie hat das Potenzial, unser Zusammenleben, unsere Wirtschaft und auch unsere medizinische Versorgung zu verändern. Wir müssen auch unsere Regeln den neuen Zeiten anpassen. Es geht jetzt darum, bei der zweiten Hälfte der digitalen Revolution - trotz aller Sorgen um den Datenschutz - auch die Chancen zu nutzen. Für die Patienten wäre das eine gute Nachricht.

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Quelle:
SZ vom 03.08.2015/sih
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