Games:Spiel mit dem Text

  • Spielefans feiern die Kombination aus Literatur und Videospielen.
  • Das Phänomen ist zwar altbekannt, kommt aber erst jetzt voll zur Geltung: Die Menschen haben sich an das Lesen am Bildschirm gewöhnt.

Von Jan Bojaryn

Die Ankunft des Phileas Fogg nach 80 Tagen Weltreise ist ein Moment, den kein Leser von Jules Vernes Roman "In 80 Tagen um die Welt" vergessen könnte. Bevor Fogg - und der Leser - merken, dass der Protagonist einen Tag zu früh ist, hat der Leser alle Irrwege im Kopf abgeschritten: Wie könnte die Reise klappen? Wie könnte sie noch verlaufen? Was wäre wenn? Der Abenteuerroman lebt davon, dass die Leser eigene Ideen aushecken. Und genau die können sie jetzt auch verwirklichen, und zwar im Spiel "80 Days". Die App für Tablets und Smartphones baut den Roman einerseits zu einer Art Spiel aus - und bleibt dabei dennoch eine Erzählung, ein Text.

"80 Days" ist der erfolgreichste Vertreter einer wachsenden Bewegung, die die Kombination aus Literatur und Videospielen feiert. Auf dem wichtigen Independent Games Festival in San Francisco sind einige Spiele mit diesem Prinzip jetzt für ihre Erzählweise ("Excellence in Narrative") nominiert. Die Kategorie wurde erst 2013 eingeführt. Seitdem dokumentiert sie die Lust der Spielemacher am Erzählen.

Dabei ist das Phänomen eigentlich ein altbekanntes: Mischformen zwischen Literatur und Videospiel gab es schon in den Achtzigern, als Autoren und Spieldesigner glaubten, sie würden die Zukunft der Literatur gestalten. Damals entstanden Textabenteuer, die etwas vollmundig unter dem Schlagwort "interactive Fiction" in den Handel kamen. Der Erfolg war bescheiden: Leser blieben beim Buch, und Spieler interessierten sich eher für Grafik als für Text.

Am Bildschirm zu lesen ist zum Standard geworden

Heute haben sich die Vorzeichen geändert: Lesen auf Bildschirmen ist Alltag. Auf Tablets passen interaktive Texte wunderbar. Und eine kleine Gemeinde aus Liebhabern hat das Genre seit seinem ersten Niedergang im Stillen gepflegt und entwickelt. Einer von ihnen, der Autor und Spieldesigner Jon Ingold hat "80 Days" entwickelt. "Indem Sie die Route, die Risiken, die Reaktionen auf Land und Leute bestimmen, formen Sie den Protagonisten", erklärt Ingold. "Bei jedem Spiel entwickelt sich ein anderer Abenteuerroman." Die Ansicht in der App wechselt zwischen Textkästen, Illustrationen und einer Weltkarte. Die größte Leistung dabei ist pure Literatur: Jon Ingold hat mit der Autorin Meg Jayanth jeden der unzähligen Entscheidungspfade ausformuliert.

Seinen Erfolg verdankt "80 Days" gerade nicht den klassischen Spielefans, denn es erfüllt deren Erwartungen an Videospiele nicht: Geschick und Übung helfen nicht weiter. Erfolg ist keine Frage von Können, sondern oft Glückssache. Das Spiel lebt von der Lust am Entdecken und Lesen.

Das kann offensichtlich ein Erfolgsprinzip sein, von dem auch andere Spiele profitieren. "Three Fourths Home" zum Beispiel, ein PC-Spiel, das Autor Zach Branford als "visuelle Kurzgeschichte" beschreibt. Es handelt von einer Frau Mitte 20, die durch das öde Montana nach Hause fährt, während sie mit ihren Eltern telefoniert. Im Hintergrund zieht ein Sturm auf. Oben im Bildschirm rauscht die monochrome Landschaft vorbei, unten der Text.

Interaktion passt nicht zu schweren Themen

Die Interaktion ist simpel, aber anhaltend. Spieler müssen den Finger auf einer Taste lassen, wie den Fuß auf einem Gaspedal. Sonst bleibt das Auto, das stets von links nach rechts rollt, stehen. Gleichzeitig müssen sie Gesprächsoptionen auswählen. "Three Fourths Home" erzählt in knappen Dialogen von den Problemen einer Familie. Der Vater ist behindert, die Tochter sucht einen Job, die Mutter sorgt sich. "Es wird nicht besser, aber es läuft immer irgendwie weiter", sagt der Vater. Eine doppeldeutige Bemerkung im Kontext des Spiels, das das Gefühl des Unterwegsseins, des therapeutischen Fahrens perfekt einfängt. Branford pocht darauf, dass der Finger auf dem Gaspedal kein bloßes Gimmick sei: "Die grundsätzliche Interaktivität von Videospielen schafft Potenzial für eine tiefere Verbindung zwischen der Geschichte und demjenigen, der sie liest, sieht oder spielt."

Auch die App "Pry" kleidet Interaktion in eine schöne Metapher: Das titelgebende "Aufstemmen" ist hier eine Zweifingergeste auf dem Touchscreen des iPads. Leser öffnen die Augen des Protagonisten, damit er die Welt sieht. Lässt man den Schirm los, schließt die Figur die Augen wieder. Das Gesehene wird als Film und Bild präsentiert, Gedanken in Textform. Kneift man die Finger zusammen, geben Bilder und Textfetzen das Unterbewusste wieder. Der Medienmix macht für Ko-Autor Danny Cannizaro die Faszination aus: "Man kann sich als Collagenkünstler fragen: Wie können sich Buch, Film und Spiel gegenseitig verstärken?" Die Verzahnung gelingt ihm auf dem Touchscreen, sie ist aber fast zu verspielt. Der Leser schnippt sich durch eine Geschichte, in der es um Trauma und Ängste eines Irak-Veteranen geht. Die Interaktion passt nicht recht zum schweren Thema. Aber Titel wie "Pry" stehen noch am Anfang einer Bewegung. Die Formen der Interaktion und ihre Bedeutung werden im Grenzland zwischen Spiel und Text noch erprobt.

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