Süddeutsche Zeitung

"Gag order":Maulkorb aufgehoben: Nach elf Jahren darf Unternehmer über FBI auspacken

Nicholas Merrill, Chef einer Internet-Firma, musste 2004 weitreichende Daten eines Kunden an das FBI übermitteln. Erst jetzt darf er darüber reden.

Von Hakan Tanriverdi

Mehr als elf Jahre hat Nicholas Merrill dafür gekämpft, sich vom FBI nicht den Mund verbieten zu lassen. Jetzt hat er Erfolg.

Merrill betrieb einen Internetprovider und Webhoster namens Calyx Internet Access, Kunden zahlten ihm Geld für Speicherplatz. Sie konnten ihre eigene Webseite ins Netz stellen. Das FBI wollte Informationen über einen Kunden - und zwang Merrill, zu dieser Anfrage zu schweigen. Niemand sollte es erfahren. Nach US-Recht darf das FBI diese Verschwiegenheit, "gag order" genannt, verlangen (mehr zu Merrills Fall hier).

Doch Merrill wehrte sich vor Gericht. Ein Richter urteilte im August, dass Menschen nicht auf unbestimmte Zeit zum Schweigen verdonnert werden können. Der Richter räumte der Regierung 90 Tage ein, um Einspruch zu erheben. Diese Frist ist nun verstrichen, der Maulkorb ist weg. Es ist das erste Mal, dass eine "gag order" gänzlich annulliert wird.

Nach elf Jahren veröffentlicht Merrill die FBI-Anfrage

Nun darf Merrill also reden, und wichtiger, auch die entsprechende Anfrage erstmalig veröffentlichen. Bis zu diesem Montag war lediglich bekannt, dass das FBI Kunden- und Nutzerdaten anfragen darf. Unklar waren die Ausmaße. Dem Dokument zufolge, über das Merrill so lange nicht sprechen durfte, verlangte das FBI Auskunft über 17 Punkte, darunter:

  • sämtliche URL-Adressen, die einem von Merrills Firma gehosteten Nutzerkonto zugewiesen waren
  • alle von seinem Kunden getätigten Online-Käufe der vergangenen 180 Tage
  • sämtliche Funkzellen, in denen der Kunde eingeloggt war

Merrill und seine Verteidiger von der Yale University interpretieren die Anfrage nach den URL-Adressen als den Wunsch des FBI, den gesamten Suchverlauf einsehen zu können. Google verarbeitet eine Anfrage, zum Beispiel nach "Süddeutsche Zeitung", mit einer spezifischen URL. Das Wort Suchverlauf verwendet die Behörde allerdings nicht. Nach Überzeugung der Anwälte aber enthält das Dokument auch die Aufforderung, sämtliche IP-Adressen von Menschen preiszugeben, mit denen ein Nutzer in Kontakt stand.

"Diese Daten geben die intimsten Details über unser Leben preis", sagt Merrill. "Unsere politischen Aktivitäten, religiösen Überzeugungen, unsere Kontakte und auch unsere Gedanken." Die Weitergabe von Funkzellen verwandle Smartphones in eine Wanze. Das FBI teilte in der Vergangenheit mit, solche Daten inzwischen nicht mehr in seinen Anfragen anzufordern.

Nach elf Jahren Rechtsstreit ist Merrill erleichtert. "Ich habe ein Viertel meines Lebens damit verbracht, um für mein Recht zu kämpfen, über diesen Fall zu reden", sagte Merrill. Durch das Urteil sehe er sich bestätigt.

Merrill erhielt die FBI-Anfrage in Form eines National Security Letter (NSL). Nach den Anschlägen im September 2001 bekamen US-Behörden mit dem Patriot Act weitreichende Befugnisse, um potenzielle Terroristen aufzuspüren. Sie änderten die Vorgaben, wann und wie NSLs eingesetzt werden dürfen. Eine der Neuerungen: Ein konkreter Tatverdacht ist nicht länger von Nöten. Es reicht, wenn eine Ermittlung "relevant" ist, um Terroranschläge zu verhindern. Die Behörde verschickt einer von Präsident Barack Obama eingesetzten Expertenkommission zufolge 60 NSL pro Tag.

Merrill hatte über die Jahre bereits Teilsiege errungen. Unter anderem darf er seit 2010 öffentlich sagen, eine FBI-Anfrage erhalten zu haben. Die Anklage selbst reichte er noch als "John Doe" ein, das entspricht dem deutschen "Max Mustermann". Zu seinen eigenen Gerichtsterminen durfte er erscheinen, aber nur im Publikum sitzen. Seiner Freundin durfte er nicht erzählen, dass er sich mit Anwälten traf. Die Anwälte selbst wussten nicht, ob sie Merrill unterstützen dürfen: "Wir hatten keine Antwort, da wir bis dato keinen NSL zu Gesicht bekommen hatten", schreibt Jameel Jaffer von der Bürgerrechtsgruppe ACLU.

"Eine furchtbare Zeit"

"Es war eine furchtbare Zeit", sagte Merrill im Gespräch mit SZ.de im Oktober. Er wohnt mittlerweile in Bay Ridge, im Süden des New Yorker Stadtteils Brooklyn. Die Gegend ist ruhig, das passt zu Merrill.

Er betreibt schon lange keine Firma für Webhosting mehr. Stattdessen will er Menschen dazu bringen, ihre Online-Kommunikation vor Angreifern abzusichern. Dazu wollte er einen Telekommunikationsanbieter gründen, der die Daten seiner Kunden nicht kennt und somit gar nicht in der Lage wäre, eine Anfrage des FBI zu verarbeiten. Das Projekt sollte per Crowdfunding finanziert werden, es kam aber nicht genug Geld zusammen.

Den Namen der Person, über die das FBI Informationen wollte, hat Merrill nicht veröffentlicht. Er will ihre Privatsphäre schützen.

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