Schon kurz nachdem Prince den "Arschlöchern" des Daily Stormer den Hahn zugedreht hatte, haderte er mit seiner Entscheidung. "Ich bin mit mieser Laune aufgewacht und habe entschieden, dass jemand im Netz nicht mehr erlaubt sein soll", schrieb er. "Niemand sollte so viel Macht haben." In einem Blogeintrag forderte der Cloudflare-Chef ein klares Regelwerk, das Leitlinien für die Regulierung von Inhalten liefern müsse. Sonst bestimmten wenige Firmen, "was online sein darf und was nicht".
Wie Recht er damit hat, beweist Prince selbst: Heute schützt sein Unternehmen Gab vor DDoS-Attacken und verhindert so, dass Hacker die Server der Plattform absichtlich überlasten und lahmlegen. Cloudflare will den Fall nicht kommentieren und erklärt nur, dass "Infrastruktur-Unternehmen keine redaktionellen Entscheidungen treffen sollten." Sieht Prince in Gab eine Bereicherung für das Netz? Findet er die Plattform sympathischer als den Daily Stormer? Hat er diesmal einfach nur einen besseren Tag erwischt?
All das ist unklar. Klar ist, dass sich das Netz an einem kritischen Punkt befindet.
Dabei geht es nicht um die Klagen der Rechten: Wenn sich Trump oder die AfD über vermeintliche Zensur beschweren, ist das larmoyant: Die Rechtspopulisten verdanken ihre Wahlsiege nicht zuletzt den sozialen Medien, in denen sie die digitale Dauerempörung ständig selbst befeuern.
Es geht auch nicht um Meinungsfreiheit: Gemeint und gesagt werden darf alles, mit wenigen Ausnahmen, die Menschen vor Verleumdung und Gewalt schützen.
Es geht darum, welche Meinungen Aufmerksamkeit erhalten, indem sie auf großen Plattformen geäußert werden dürfen. Tech-Unternehmen sind die Gatekeeper des 21. Jahrhunderts, sie übernehmen diese Rolle von den klassischen Medien des 20. Jahrhunderts.
Es war noch nie eine gute Idee, auf die Moral von Unternehmen zu vertrauen
Was wäre, wenn Trump 2020 für weitere vier Jahre gewählt wird, die Republikaner den Druck auf Facebook erhöhen und Mark Zuckerberg entnerven, der zurücktritt, und ihm ein Rechtslibertärer wie der Palantir-Gründer und Facebook-Investor Peter Thiel nachfolgt? Was, wenn radikal-libertäre Domain-Registrare wie Epik, die selbst illegalen Inhalten eine Plattform geben, Reichweite gewinnen und sich weigern, Nazis mundtot zu machen?
Vielleicht ist es richtig, auf die Moral von Unternehmen wie Paypal, Joyent und Godaddy zu vertrauen und zu hoffen, dass Matthew Prince öfter mal mit dem falschen Fuß zuerst aufsteht und Rassisten rauswirft. Womöglich werden die digitalen Regeln längst von Konzernen geschrieben, so dass Politiker die Macht nicht mehr zurück in die Hände von Gerichten legen können. Dann können wir nur hoffen, dass sich im Netz eher die Werte des vergleichsweise liberalen Silicon Valley als die des autoritären Chinas durchsetzen.
Die "Werte des Silicon Valley"? Das sollte uns misstrauisch machen. Es war noch nie eine gute Idee, auf die Moral von kapitalistischen Unternehmen zu vertrauen. Selbst wenn man den Tech-Gründern glaubt, dass sie nur das Beste für alle Menschen wollen: Niemand sollte so viel Macht haben.
Wir sind gerade dabei, die letzte Chance zu verspielen, das Netz in demokratische Bahnen zu lenken. Wir, das sind Politiker, die jahrzehntelang die Augen vor der Digitalisierung verschlossen und es verpasst haben, den Unternehmen Grenzen aufzuzeigen.
Wir, das sind aber auch einzelne Nutzer. Die geschlossenen Ökosysteme sind bequem, aber niemand wird dort eingesperrt. Buchhandlungen sind kein Relikt aus dem vergangenen Jahrhundert und das Netz wimmelt von Online-Shops, die Amazon nahezu gleichwertig ersetzen. Jeder kann ein Blog schreiben statt Facebook zu füttern. Die meisten Freunde sind bei Whatsapp, aber vielleicht lassen sie sich überzeugen, zu Signal, Threema oder Wire umzuziehen. Chrome ist ein schneller und sicherer Browser - genau wie Firefox, hinter dem kein Milliardenkonzern, sondern die gemeinnützige Mozilla Foundation steckt.
Die Alternativen sind da, wir müssen sie nur nutzen.