Zensur im Internet:Das freie Netz stirbt vor unseren Augen

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(Foto: Liam Briese/Unsplash)
  • Auf Gab tummeln sich Rassisten und Antisemiten. Jetzt steht die Plattform vor dem Aus.
  • Es ist gut, dass Gab verschwindet - doch das Wie macht nachdenklich: Der Fall zeigt, dass wenige Infrastruktur-Anbieter gewaltige Macht besitzen.
  • Wenn eine Handvoll Tech-Unternehmen so einflussreich ist, bedroht das nicht nur das freie Netz, sondern die Demokratie.

Essay von Simon Hurtz

Eine der unangenehmsten Webseiten der Welt ist kurz davor, für immer aus dem Netz zu verschwinden. Die Seite heißt Gab, und dass sie in großen finanziellen Schwierigkeiten stecke, berichtet The Daily Beast. Das soziale Netzwerk ist ein Tummelplatz für Menschen, die sich von Twitter und Facebook zensiert fühlen. Bei Gab können sie ihrem Hass, Rassismus und Antisemitismus freien Lauf lassen.

Zwar dementiert Gründer Andrew Torba die Meldung und verbreitet Verschwörungstheorien über einen Angriff des "Deep State" auf seinen Dienst. Doch die Fakten sind eindeutig: Gab hat seine Nutzerzahlen wohl massiv übertrieben, um Investoren anzulocken, und verbrennt Hunderttausende Dollar, wie aus den Zahlen der US-Börsenaufsicht hervorgeht.

Es gibt keinen Grund, dem Netzwerk hinterher zu trauern: Das "Twitter der Rassisten" bildet eine "hasserfüllte Echokammer für Verschwörungstheorien", in die sich "verbannte Twitter-Trolle und weiße Nationalisten" zurückziehen, um nur einige seiner Kritiker zu zitieren. Rechtsradikale wie Richard Spencer suchen dort Zuflucht, wenn andere Plattformen ihre Konten sperren. Torba vergleicht politische Korrektheit mit "Krebs" und propagiert die rücksichtsloseste Form der Meinungsfreiheit, was konkret bedeutet: Rechte hetzen gegen Andersdenkende. Gab ist ein Ort, an dem sich Extremisten und Antisemiten gegenseitig aufstacheln.

Doch man kann Gab aus tiefstem Herzen ablehnen und trotzdem nachdenklich werden. Denn der Fall wirft grundsätzliche Fragen auf: In wessen Händen liegt die Macht im Netz? Wer kontrolliert die zentrale Kommunikations-Infrastruktur des 21. Jahrhunderts und bestimmt die Regeln, die für Milliarden Menschen gelten? Ist es richtig, diese Entscheidung in die Hände einiger weniger privater Unternehmen zu legen?

Um zu verstehen, was das absehbare Ende eines Tummelplatzes für Rassisten mit der Zukunft des World Wide Webs zu tun hat, muss man ein paar Monate zurückblicken. Bevor ein US-amerikanischer Antisemit in einer Synagoge in Pittsburgh elf Menschen erschoss, hatte er seine Tat auf Gab angekündigt. Mehrere große Unternehmen kündigten daraufhin ihre Verträge mit Gab. Darunter waren der Zahlungsdienstleister Paypal, der Hoster Joyent und der Domain-Registrar Godaddy. Sie stellen die finanzielle und technische Infrastruktur zur Verfügung, ohne die keine größere Webseite existieren kann. Kurz darauf ging Gab offline und tauchte erst eine Woche später wieder auf.

Es geht nicht darum, dass Gab verschwindet, sondern wie

Ein Großteil der politischen Kommentatoren war sich einig: Zehntausenden Rassisten und Antisemiten sei das Mikrofon entzogen worden, die Moral habe gesiegt. Doch es gab eine zweite Lesart: Hunderttausende Menschen seien zensiert worden. Das Diktat der politischen Korrektheit habe wieder zugeschlagen. Während seiner Zwangspause inszenierte sich Torba als Opfer und versuchte, sich als Kämpfer für die Meinungsfreiheit zu profilieren. "Wir sind das am meisten zensierte, verleumdete und unterdrückte Start-up der Geschichte", schrieb er. "Das bedeutet, dass wir eine Bedrohung für die Medien und die Silicon-Valley-Oligarchen darstellen."

Das ist selbstverliebt, weinerlich und hanebüchen. Aber es geht nicht darum, dass Gab verschwindet, sondern um das Wie. Seit Jahren streiten Free-Speech-Verfechter und Safe-Space-Befürworter darüber, ob digitale Plattformen wie Facebook und Youtube mehr Verantwortung für Inhalte übernehmen sollen. Der Fall Gab ist noch größer und grundsätzlicher: Wenn ein Content-Moderator einen Tweet löscht oder ein Facebook-Konto sperrt, betrifft das nur einen Nutzer. Wenn Joyent oder Godaddy handeln, betrifft das ein ganzes Netzwerk - und damit auf einen Schlag Tausende oder gar Millionen Menschen.

Das dezentrale Netz ist heute eine Illusion. Im Internet liegt die Macht in den Händen weniger Infrastruktur-Anbieter. Dazu gehören Amazon und Microsoft, auf deren Servern AWS und Azure ein Großteil aller Webseiten liegt. Wer eine Domain wie sueddeutsche.de anmelden will, beauftragt Registrare wie Godaddy oder 1&1. DNS-Provider wie Google oder Cloudflare übersetzen die URLs in IP-Adressen und verbinden den Rechner des Nutzers mit dem Server des Anbieters.

Niemand kann Unternehmen zwingen, jedem eine Bühne zu geben

Auch Internetprovider und Browseranbieter treffen wichtige Entscheidungen: In Großbritannien sollen Provider den Zugriff auf pornografische Inhalte blockieren. Microsoft warnt Edge-Nutzer vor Seiten, die angeblich Falschinformationen verbreiten. Google bestimmt mit seinem marktbeherrschenden Chrome-Browser die Spielregeln im Netz. Hinzu kommen Zahlungsdienstleister wie Paypal oder Patreon, die Plattformen zwar nicht unmittelbar stilllegen, aber langsam ausbluten lassen können, wenn sie deren Konten einfrieren.

"Wir müssen anerkennen, dass jede Taktik, die jetzt benutzt wird, um Neo-Nazis zum Schweigen zu bringen, auch gegen andere genutzt werden wird, deren Meinung wir teilen", warnte die US-Bürgerrechtsorganisation EFF im vergangenen Jahr. Damals hatten Cloudflare, Google und Godaddy die Macht des Silicon Valleys demonstriert und die rechtsradikale Seite Daily Stormer aus dem Netz gedrängt. Deren Betreiber seien "Arschlöcher", erklärte Cloudflare-Chef Matthew Prince die Entscheidung in einer internen Mail an seine Mitarbeiter.

Selbst in den USA, wo Redefreiheit noch mehr gilt als in Deutschland, schützt der erste Verfassungszusatz Bürger nur vor dem Staat. Niemand kann private Unternehmen zwingen, jedem ein Mikrofon unter die Nase zu halten, der eine Meinung hat.

Die letzte Chance, das Netz in demokratische Bahnen zu lenken

Schon kurz nachdem Prince den "Arschlöchern" des Daily Stormer den Hahn zugedreht hatte, haderte er mit seiner Entscheidung. "Ich bin mit mieser Laune aufgewacht und habe entschieden, dass jemand im Netz nicht mehr erlaubt sein soll", schrieb er. "Niemand sollte so viel Macht haben." In einem Blogeintrag forderte der Cloudflare-Chef ein klares Regelwerk, das Leitlinien für die Regulierung von Inhalten liefern müsse. Sonst bestimmten wenige Firmen, "was online sein darf und was nicht".

Wie Recht er damit hat, beweist Prince selbst: Heute schützt sein Unternehmen Gab vor DDoS-Attacken und verhindert so, dass Hacker die Server der Plattform absichtlich überlasten und lahmlegen. Cloudflare will den Fall nicht kommentieren und erklärt nur, dass "Infrastruktur-Unternehmen keine redaktionellen Entscheidungen treffen sollten." Sieht Prince in Gab eine Bereicherung für das Netz? Findet er die Plattform sympathischer als den Daily Stormer? Hat er diesmal einfach nur einen besseren Tag erwischt?

All das ist unklar. Klar ist, dass sich das Netz an einem kritischen Punkt befindet.

Dabei geht es nicht um die Klagen der Rechten: Wenn sich Trump oder die AfD über vermeintliche Zensur beschweren, ist das larmoyant: Die Rechtspopulisten verdanken ihre Wahlsiege nicht zuletzt den sozialen Medien, in denen sie die digitale Dauerempörung ständig selbst befeuern.

Es geht auch nicht um Meinungsfreiheit: Gemeint und gesagt werden darf alles, mit wenigen Ausnahmen, die Menschen vor Verleumdung und Gewalt schützen.

Es geht darum, welche Meinungen Aufmerksamkeit erhalten, indem sie auf großen Plattformen geäußert werden dürfen. Tech-Unternehmen sind die Gatekeeper des 21. Jahrhunderts, sie übernehmen diese Rolle von den klassischen Medien des 20. Jahrhunderts.

Es war noch nie eine gute Idee, auf die Moral von Unternehmen zu vertrauen

Was wäre, wenn Trump 2020 für weitere vier Jahre gewählt wird, die Republikaner den Druck auf Facebook erhöhen und Mark Zuckerberg entnerven, der zurücktritt, und ihm ein Rechtslibertärer wie der Palantir-Gründer und Facebook-Investor Peter Thiel nachfolgt? Was, wenn radikal-libertäre Domain-Registrare wie Epik, die selbst illegalen Inhalten eine Plattform geben, Reichweite gewinnen und sich weigern, Nazis mundtot zu machen?

Vielleicht ist es richtig, auf die Moral von Unternehmen wie Paypal, Joyent und Godaddy zu vertrauen und zu hoffen, dass Matthew Prince öfter mal mit dem falschen Fuß zuerst aufsteht und Rassisten rauswirft. Womöglich werden die digitalen Regeln längst von Konzernen geschrieben, so dass Politiker die Macht nicht mehr zurück in die Hände von Gerichten legen können. Dann können wir nur hoffen, dass sich im Netz eher die Werte des vergleichsweise liberalen Silicon Valley als die des autoritären Chinas durchsetzen.

Die "Werte des Silicon Valley"? Das sollte uns misstrauisch machen. Es war noch nie eine gute Idee, auf die Moral von kapitalistischen Unternehmen zu vertrauen. Selbst wenn man den Tech-Gründern glaubt, dass sie nur das Beste für alle Menschen wollen: Niemand sollte so viel Macht haben.

Wir sind gerade dabei, die letzte Chance zu verspielen, das Netz in demokratische Bahnen zu lenken. Wir, das sind Politiker, die jahrzehntelang die Augen vor der Digitalisierung verschlossen und es verpasst haben, den Unternehmen Grenzen aufzuzeigen.

Wir, das sind aber auch einzelne Nutzer. Die geschlossenen Ökosysteme sind bequem, aber niemand wird dort eingesperrt. Buchhandlungen sind kein Relikt aus dem vergangenen Jahrhundert und das Netz wimmelt von Online-Shops, die Amazon nahezu gleichwertig ersetzen. Jeder kann ein Blog schreiben statt Facebook zu füttern. Die meisten Freunde sind bei Whatsapp, aber vielleicht lassen sie sich überzeugen, zu Signal, Threema oder Wire umzuziehen. Chrome ist ein schneller und sicherer Browser - genau wie Firefox, hinter dem kein Milliardenkonzern, sondern die gemeinnützige Mozilla Foundation steckt.

Die Alternativen sind da, wir müssen sie nur nutzen.

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