Freiheit versus Sicherheit:Was Sie über die Vorratsdatenspeicherung wissen sollten

Vorratsdatenspeicherung

Wenig Nutzen bei massiver Grundrechtsverletzung - das werfen Kritiker der VDS vor.

(Foto: dpa)

Wer mit wem, wann, wie lange und mit welchem Gerät: Heute verabschiedet der Bundestag das umstrittene Überwachungsgesetz. Was das für Sie bedeutet und warum Juristen und Bürgerrechtler auf die Barrikaden gehen.

Von Simon Hurtz

Nach jahrelangen Streitereien geht es plötzlich ganz schnell. Am Mittwoch stimmte der Rechtsausschuss des Bundestags dem Gesetzentwurf zu, heute wird das Parlament die Vorratsdatenspeicherung (VDS) endgültig beschließen. Oppositionspolitiker wie Renate Künast werfen der Regierung vor, das umstrittene Gesetz während der Flüchtlingsdebatte "im Eiltempo durch den Bundestag zu jagen", um "unter dem Radar fliegen" zu können. Linke und Grüne legten Protest ein, da sie sich in ihren Oppositionsrechten verletzt sahen, hatten damit jedoch keine Chance gegen die Mehrheit von Union und SPD. Wesentliche Änderungen enthält der Gesetzestext nicht. Dem ursprünglichen Entwurf wurde lediglich eine Passage hinzugefügt, derzufolge die Erfahrungen mit dem Gesetz nach drei Jahren ausgewertet werden müssen.

Die damalige große Koalition startete im Jahr 2007 den ersten Versuch, in Deutschland die VDS einzuführen. Drei Jahre darauf verwarf das Bundesverfassungsgericht das Gesetz als grundgesetzwidrig. Im April 2014 kippte der Europäische Gerichtshof dann auch die entsprechende EU-Richtlinie. In ihrem neuen Anlauf schränkt die Regierung Dauer und Umfang der Aufbewahrung ein, nichtsdestotrotz soll auch sie die massenhafte Erfassung von Kommunikationsdaten ohne Anlass ermöglichen.

Der Gesetzentwurf will die "Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten". Was hat das mit Vorratsdaten zu tun?

Vorratsdaten, Verkehrsdaten, Verbindungsdaten, Metadaten, alle Begriffe bedeuten dasselbe: Wer mit wem, wann, wie lange, von wo aus und mit welchem Gerät kommuniziert. Die Inhalte werden nicht gespeichert: Ermittler erfahren also nicht, was gesagt oder geschrieben wurde. Zeit Online zieht "einen Vergleich aus der nichtdigitalen Welt, der nicht hinkt": Es sei, als würde man jedes Gespräch in jeder Kneipe des Landes registrieren. Man archiviere zwar nicht den Wortlaut der Unterhaltung, wohl aber Datum und Uhrzeit, Dauer, Gesprächspartner und den Namen der Kneipe.

Die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hält den neuen Namen für "Augenwischerei" und kann inhaltlich keine Fortschritte erkennen: "Aus Raider wird jetzt Twix. Aus der Vorratsdatenspeicherung wird jetzt die Höchstspeicherfrist." Das neue Gesetz entspreche im Wesentlichen der alten, verfassungswidrigen VDS; nur die Fristen seien ein wenig verkürzt und E-Mail-Adressen ausgenommen worden. Tatsächlich sei der neue Entwurf gar noch schlimmer als die alte Regelung, da nun auch Standortdaten erfasst würden.

Welche Daten sollen konkret für wie lange gespeichert werden?

Die Regierung will Telekommunikationsanbieter verpflichten, die Festnetz- und Mobilverbindungen ihrer Kunden aufzubewahren. Das beinhaltet auch IP-Adressen und beispielsweise Skype-Gespräche. Die Anbieter dürfen die Daten maximal zehn Wochen speichern, Verstöße werden mit Bußgeldern geahndet. Wer ein Handy nutzt, gibt damit auch seinen Aufenthaltsort preis. Für diese Standortdaten gilt eine Höchstspeicherfrist von vier Wochen. E-Mails und aufgerufene Internetseiten sollen von der VDS ausgenommen sein. Aufgrund eines technischen Problems werden bei SMS nicht nur die Verbindungsdaten, sondern auch die Inhalte der Nachrichten gespeichert.

Wozu dienen diese Verbindungsdaten?

Aus den Metadaten lässt sich einiges über die Nutzer ablesen, etwa welche privaten Kontakte sie wie intensiv pflegen. Werden auch die Mobilfunkstationen gespeichert, bei denen das Handy des Nutzers registriert wird, können auch Bewegungsprofile erstellt werden. Polizei und Ermittlungsbehörden versprechen sich von diesen Daten bessere Chancen bei der Verbrechensbekämpfung. In der Vergangenheit forderten sie deshalb immer wieder, Vorratsdaten auch für die Aufklärung weniger schwerer Straftaten nutzen zu dürfen. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter findet es prinzipiell gut, dass Daten wieder auf Vorrat gespeichert werden - hält das aktuelle Gesetz aber für zu lasch, da die Fristen zu kurz und der Straftatenkatalog unzureichend sei.

Was sind die zentralen Kritikpunkte am aktuellen Gesetzentwurf?

Von den grundlegenden Zweifeln an Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit der verdachtsunabhängigen Datenspeicherung abgesehen (dazu später mehr) gibt es mehrere konkrete Einwände gegen den nun verabschiedeten Gesetzentwurf. Er verbietet es, Daten zu veröffentlichen, "die nicht allgemein zugänglich sind und die ein anderer durch eine rechtswidrige Tat erlangt hat".

Eigentlich soll das dem Schutz persönlicher Daten dienen, doch Berufsgeheimnisträger wie Anwälte oder Journalisten sehen durch den neu geschaffenen Paragrafen zur Datenhehlerei ihre Arbeit "in die Nähe der Strafbarkeit gerückt" und fürchten unzureichenden Schutz von Informanten und Redaktionsgeheimnissen. Ähnlich beurteilen das die Reporter ohne Grenzen und der Verband der deutschen Internetwirtschaft eco, der den mangelnden Schutz von Berufsgeheimnisträgern als "verfassungsrechtlich problematisch" einschätzt (PDF).

Peter Schaar, der ehemalige oberste Datenschützer Deutschlands, forderte im Mai eine "ausführliche parlamentarische und verfassungsrechtliche Prüfung" der VDS, kritisiert die übereilte Wiedereinführung und befürchtet "rechtliche und handwerkliche Fehler" im Gesetzentwurf (PDF). Diese Prüfung hat nie stattgefunden. Schaar zufolge treffe der Straftatbestand der Datenhehlerei Menschen, die Fehlverhalten in Unternehmen und Regierungen ans Licht bringen wollen - und damit auch Plattformen wie Wikileaks: "Wenn es diesen Straftatbestand vor eineinhalb Jahren schon gegeben hätte, dann wären viele der Berichte über die NSA-Spähaffäre strafbar gewesen."

Zu einem ähnlich ernüchternden Ergebnis kommt der Journalist Daniel Moßbrucker. Anderthalb Monate lang hat er sich selbst überwacht, alle Mobilfunk- und Internetdaten aufgezeichnet, die auf seinen Geräten angefallen sind und den Datenhaufen anschließend analysieren lassen. Sein Fazit: Künftig reiche es für Informantenschutz nicht mehr, sich auf Paragrafen in der Strafprozessordnung zu verlassen. Man müsse sich bewusst machen, dass man theoretisch die ganze Zeit durchleuchtbar sei. Nicht zuletzt deshalb haben die Journalisten- und Medienorganisationen DJV, DJU, BDZV, VDZ und VPRT sowie die ARD an den Deutschen Bundestag appelliert, heute mit Nein zu stimmen - aller Voraussicht nach vergeblich.

Das sagen Richter und Kritiker zur Vorratsdatenspeicherung

Es werden keine Inhalte erfasst - ist die Vorratsdatenspeicherung also harmlos?

Dieses Argument lehnen die Gegner schärferer Speicherregeln vehement ab: Einer Untersuchung der amerikanischen Eliteuniversität MIT zufolge lassen sich Personen mit den vermeintlich harmlosen Verbindungsdaten ebenso zweifelsfrei identifizieren wie mit einem Fingerabdruck. Forscher der Uni Stanford konnten in einem Experiment Rückschlüsse durch die Auswertung von Metadaten auf intime Details wie Religionszugehörigkeit, Geschlechtskrankheiten, außereheliche Affären, Waffenbesitz oder Drogenhandel ziehen. Auch Politiker wie der Grüne Malte Spitz oder der Schweizer Nationalrat Balthasar Glättli haben bei ihren Mobilfunkanbietern die über sie gespeicherten Verbindungsdaten angefordert und auswerten lassen. Die visualisierten Daten ergeben ein lückenloses Profil, ein "fast vollständiges Abziehbild des Lebens".

Wie haben Gerichte die Vorratsdatenspeicherung bisher beurteilt?

Die große Koalition hatte 2007 die VDS beschlossen. Zwei Jahre später erklärte das Bundesverfassungsgericht das deutsche Gesetz für nichtig, da es gegen das Fernmeldegeheimnis verstoße, einen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff darstelle und den Schutz der Daten nicht gewährleisten könne. Grundsätzlich hielten es die Richter jedoch für juristisch zulässig, die Verkehrsdaten von Bürgern zu speichern. Zuvor galt die Datenspeicherung ohne konkreten Anlass zu noch unbestimmten Zwecken von vornherein als grundgesetzwidrig.

Auch auf europäischer Ebene beschäftigt die VDS die Gerichte. Eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2006 verpflichtete private Telekommunikationsunternehmen, Verbindungsdaten für einen Zeitraum von sechs bis 24 Monaten zu speichern. 2014 verwarf der Europäische Gerichtshof diese Richtlinie jedoch. Ähnlich wie in Deutschland erwähnten die Richter, dass eine Speicherung an sich zulässig sei, um schwere Kriminalität zu bekämpfen. Die Richtlinie in ihrer bisherigen Form verstoße aber gegen europäisches Recht, da sie "einen Eingriff von großem Ausmaß und besonderer Schwere in die Grundrechte" beinhalte und sich "nicht auf das absolut Notwendige" beschränke. (Welche Schranken die Richter gesetzt haben, lesen Sie hier.)

Neben den beiden Gerichten sind auch die EU-Kommission und die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags skeptisch, ob die VDS mit den Grundrechten vereinbar ist.

Schreckt die Vorratsdatenspeicherung Verbrecher ab?

In Ländern mit VDS sei keine abschreckende Wirkung erkennbar, sagen Kritiker. Zudem würden professionelle Straftäter die Maßnahme ohnehin umgehen, indem sie ihre Handys wechseln oder Internetcafés nutzen. Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg verglich 2012 die Kriminalstatistiken mehrerer europäischer Länder und konnte kaum Hinweise auf die Wirksamkeit der VDS feststellen. Auch bei einer Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof konnten die Befürworter der VDS den behaupteten Nutzen nicht nachvollziehbar darlegen.

Hilft die Vorratsdatenspeicherung bei der Aufklärung von Verbrechen?

Dem Bericht des Max-Planck-Instituts zufolge waren Abfragen von Verbindungsdaten auch ohne VDS in 96 Prozent aller Fälle erfolgreich. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags bezweifeln deshalb, dass "Zweck und Mittel" in einem "ausgewogenen Verhältnis" stehen, und berufen sich auf Zahlen des Bundeskriminalamts, wonach die Vorratsdatenspeicherung lediglich zu einer um 0,006 Prozent verbesserten Aufklärungsquote führe.

Der Journalist Mario Sixtus fasste das 2013 so zusammen:

Wie wehren sich Bürger gegen die Vorratsdatenspeicherung?

Manche ganz klassisch analog: Campact, der Bürgerrechtsverein Digitale Gesellschaft, der Arbeitskreis VDS, der Verein Digitalcourage und weitere Organisationen haben zum Protest aufgerufen. Sie demonstrierten an diesem Freitag ab acht Uhr vor dem Eingang zum Berliner Reichstag. Damit können sie das Gesetz natürlich nicht mehr aufhalten, wollen aber zumindest ein Zeichen setzen.

Es gibt einen Weg, der tatsächlich dazu führen könnte, dass das Gesetz gekippt wird: Digitalcourage e. V. plant eine Verfassungsbeschwerde. Bürger können das einfach unterstützen, indem sie das Formular mit Name und Adresse ausfüllen. Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof haben frühere Versuche, die anlasslose Massenüberwachung einzuführen, als grundrechtswidrig abgelehnt. Dementsprechend ist es durchaus möglich, dass die Richter auch den abermaligen Vorstoß kassieren.

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