Freiheit im Internet:Der Wunsch, wichtig zu sein

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Was steckt dahinter? Offensichtlich das, was der amerikanische Philosoph John Dewey einmal den Wunsch, wichtig zu sein, genannt hat. Das Profil ist die öffentliche Ausstellung der Identität. Wir opfern Privatheit für Aufmerksamkeit. Dieses zentrale soziale Phänomen ist natürlich so alt wie die Zivilisation. Aber unter Internetbedingungen hat es eine neue Qualität angenommen. Unaufhörlich arbeiten die vernetzten Computer der Welt als unsere Profiler. Mehr und mehr gewöhnen wir uns an den Alltag der permanenten Überwachung, der Screening und Monitoring heißt. So wandelt sich das bürgerliche Individuum in den ständig und infinitesimal Überwachten.

Sammeln, suchen, überwachen - das ist Googles Welt. Und ihr entspricht ein interessantes, neues Konzept von persönlicher Identität, das man auf eine einfache Formel bringen könnte: Ich bin meine Maus-Klicks. Identität ist heute eine Rechenaufgabe, und zwar geht es um eine Extremwertberechnung zwischen privat und öffentlich. Wo liegt das Optimum? Es geht um ein empfindliches dynamisches Fließgleichgewicht zwischen freier Information und Kontrolle. Und so wie der Einzelne seine Identität zwischen öffentlich und privat konstruieren muss, so findet die Firma ihren Profit zwischen Open Source und Eigentum.

Die Freiheit der Information hat ihre traditionellen Grenzen an der Privatsphäre des Individuums und der Sicherheit des Staates. Aber es gibt immer mehr Menschen, denen beides gleichgültig ist. Die Verhaltensweise, die man demgegenüber all jenen Bürgern anraten könnte, die noch auf ihre Privatsphäre Wert legen, weil die Würde des Menschen von ihr abhängt, hat Walter Benjamin einmal Krypto-Emigration genannt. Damit hat er Brechts Ratschlag für Städtebewohner auf den Begriff gebracht: "Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ, wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat, wie soll der zu fassen sein! Verwisch die Spuren!" Mach dich unklassifizierbar! Das könnte die Parole einer digitalen Zivilverteidigung sein.

Bürgerlicher Widerstand

Deshalb ist der Widerstand gegen Google Street View zutiefst bürgerlich. Es geht hier in erster Linie gar nicht um juristische Bedenken, sondern um den Angriff auf den "Geheimniszustand", der für die bürgerliche Privatsphäre wesentlich ist. Der Bürger will selbst bestimmen, was von seiner Existenz öffentlich wird; vielleicht die Hausfassade, aber nicht der Garten; vielleicht die Ehefrau, aber nicht die Kinder. Deshalb baut man Zäune, pflanzt Hecken, und Gardinen stellen sicher, dass man durch die Fenster hinaus-, aber nicht hineinsehen kann. Nur ein kindischer anti-bürgerlicher Affekt kann das "spießig" finden.

Was mit der Unterscheidung von privat und öffentlich auf dem Spiel steht, ist die Idee der bürgerlichen Freiheit. Privatheit ist bürgerlich; heute muss sie eigens erarbeitet werden. Privatheit ist eine Aufgabe. Und vielleicht wird man über die bürgerliche Identität im Zeitalter des Internet bald sagen können: Jeder bemerkenswerte Mensch arbeitet gegen sein eigenes Profil. Privatheit ist die Standardeinstellung, die der Bürger im Umgang mit den Medien bewusst wählen muss.

Das ist natürlich eine unzeitgemäße Strategie, denn in der Welt der Netzwerke sind privat / öffentlich und persönlich / geschäftlich keine plausiblen Unterscheidungen mehr. Die populären sozialen Netzwerke leben ja von der Privatisierung der Geselligkeit und der Veröffentlichung der Persönlichkeit. Jeder wird zur Mini-Celebrity. Damit bezeichnen wir den Gegenpol zum bürgerlichen Optimum der Identität. Und das entspricht durchaus dem Geist der Moderne. Denn Individualität zeigt sich heute darin, dass jeder selbst definieren darf, wo seine schützenswerte Privatsphäre beginnt. Privatheit 2.0 ist eigenrichtig.

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